4.7.1 Ein Symbol viele Deutungsmöglichkeiten


Abb. 11a zeigt die Deckseite der Axt von Wallendorf-Wegwitz, Abb. 11b die Rückseite in grafischer Nachempfindung. Das Original befindet sich in der Sammlung des Landesmuseums für Vorgeschichte Sachsen-Anhalt in Halle/Saale.1
Neben der Axt von Halle-Radewell ragt meiner Ansicht nach dieses Exemplar einerseits wegen seiner klar strukturierten Bildelemente in vertikaler Reihung aus dem sonstigen Bestand heraus, andererseits wegen der vergleichsweisen Bandbreite an verwendeten Symbolen. Wie bei jener ergibt sich auch hier auf Anhieb der Eindruck einer differenzierten, logisch arrangierten Information auf astrokalendarischer oder kultisch-kosmologischer Ebene. Ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen stellt eine intellektuelle Herausforderung dar, der ich mich nach ersten Einblicken in die Bedeutung der Halle-Radeweller Axt nicht mehr zu entziehen vermochte.
Das in Abb. 11a und b skizzierte Exemplar der dekorierten salzmünder Steinäxte stammt vom Fundort Wegwitz beim heutigen Ort Wallendorf (an der Luppe) in der Gemeinde Schkopau. Wie bei der Halle-Radeweller Axt liegt auch hier ein gesicherter Fund im Kontext eines Steinkistenbegräbnisses vor.2 Das zeigt erneut, dass solche Äxte sehr wahrscheinlich eine besonders geachtete, geistige Elite auszeichneten, deren Mitgliedern nach ihrem Tod, so der Anschein, die ehrenvolle Einzelbestattung in einer Steinkiste zuteil wurde.
Beim Material handelt es sich erneut um sehr dunklen, feinkörnigen Amphibolith,3 zu dem die eingravierten und weiß inkrustierten Zeichen einen auffälligen Kontrast bilden. Was der Unterstellung Raum bietet, im weißen Dekor auf schwarzem Grund wird erneut das Problem der Finsternisse thematisiert. Die Länge des Prachtstücks beträgt knapp achtundzwanzig Zentimeter. Damit ist diese Axt zwar um fast ein Viertel kürzer gegenüber dem Fundstück von Halle-Radewell, misst aber in der Breite nur wenige Millimeter weniger. Was ihre Form etwas gedrungener erscheinen lässt. Wie die Radeweller Axt und den größten Teil der bekannten Fundstücke dieser Art zieren auch das vorliegende Exemplar entlang der relativ flachen Wangen drei umlaufende, sauber parallel gravierte Rillen.
Im Dekor der Deckseite fallen zwei Bildelemente besonders ins Auge. Die Axtspitze ziert zum einen ein Tannenbaummotiv, welches auf den ersten Blick fast perfekt symmetrisch arrangiert erscheint mit acht streng gegenständigen Astpaaren. Die Abstände zwischen den Astpaaren sind auffällig weit und regelmäßig. Bei genauerer Betrachtung verflüchtigt sich zwar die angenommene Perfektion der Geometrie. Es bleibt aber festzustellen, hier hat sich einer mit dem Tannenbaummotiv auffällig Mühe gegeben bei der Rhythmik und Symmetrie der Strichführung. Ich habe daher beides in meiner grafischen Wiedergabe in Abb. 11a der Einfachheit halber optimiert, da die geringen Abweichungen beim Original von der Perfektion ohne inhaltliche Bedeutung sind.
Direkt über dem “Tannenbaum” findet sich das zweite auffällige Motiv, dass ich wegen seiner paarig bogenförmigen Erscheinung im Folgenden nur noch als “Zwillingsmotiv” bezeichne. Auffallend ist es insofern, als es einmalig im Dekor der salzmünder Steinäxte ist, vermutlich sogar im gesamten bekannten Zeichenrepertoire dieser Kulturgruppe. Zudem vermittelt es den Eindruck, zwar bedeutsam, aber auch leicht entschlüsselbar zu sein. Was wohl daran liegt, dass es mit seiner inneren Schraffur irgendwie profan gegenständlich daherkommt. Etwas irritierend sind allerdings das Zwillingsmotiv rechts und links flankierende Dreistriche. Gehören die zum Objekt? Bilden sie einen landschaftlichen Hintergrund?
Je intensiver man über das Zwillingsmotiv nachsinnt, um so mysteriöser wird es. Nach Jahren eingehender Beschäftigung mit Stonehenge und anderen Megalithbauwerken erkannte ich darin auf Anhieb ein Paar großer, eng gestellter Monolithe. Wobei die Schraffur entweder ein weiches Gestein anzeigt, in das sich beim kilometerweiten Zerren über runde Baumstämme typische Rinnen eingeschliffen hatten. Oder aber ähnliche Rinnen ergaben sich durch die Oberflächenbearbeitung mit runden Hammersteinen, wie man sie auch in Stonehenge an den Sarsenblöcken festgestellt hatte. So oder so wollte der Steinzeitkünster anzeigen, dass es sich um keine natürliche Felsformation oder Ähnliches handelt, sondern um eine künstlich erzeugte Visiereinrichtung. Über deren Kimme, so der Eindruck im bildlichen Kontext, werden für horizontkalendarische Zwecke Sonne und/oder Mond angepeilt. Jedenfalls war das meine damalige Überzeugung, die ich in perfekter Übereinstimmung mit megalithischen Gepflogenheiten wähnte.
Im Landesmuseum für Vorgeschichte von Sachsen-Anhalt, in Halle an der Saale konfrontierten mich seinerzeitige Mitarbeiter, mittlerweile sind mehr als zehn Jahre ins Land gegangen, dagegen mit einer für mich völlig verblüffenden Auffassung. Demnach könne man das Element auch für ein aus Brettern oder Balken gefügtes, doppelflügeliges Tor halten.
Diese Idee fand ich damals absurd! Sie warf für mich einfach zu viele Fragen auf, sowohl in technischer Hinsicht als auch zur Positionierung innerhalb des Bildarrangements. Sollten die schrägen Dreistriche Torangeln darstellen? Wie sollte das funktionieren? Woraus waren die Angeln gemacht, aus Seilen? Woran waren die Angeln ihrerseits befestigt? Stand ich als Bildbetrachter innerhalb oder außerhalb der Torbegrenzung? War ich in etwas ein- oder von etwas ausgeschlossen? Wo befand sich das Tor überhaupt? Mitten in einer Hügel- oder Berglandschaft? Stellte die Dreistrich vielleicht gestufte Höhenzüge im Harzer Vorland dar? Auf keine dieser und weitere Fragen bot die Deutung als Tor für mich auf Anhieb auch nur eine halbwegs plausible Antwort. Obendrein ignoriert sie die Kreismotive darüber, die doch recht naheliegend für irgendeine Art kalendarische Symbolik sprechen. Allerdings könnte ich im Laufe der Zeit auch verdrängt haben, dass die Archäologen seinerzeit eventuell schon von imaginären Toren gesprochen hatten. Womit ich damals freilich auch nichts hätte anfangen können.
Mit zunehmendem Wissen um vor- und frühgeschichtliche Weltbilder musste ich später allerdings anerkennen, die von den Hallenser Wissenschaftlern aufgeworfene Deutung bot durchaus eine Option. Unter der Voraussetzung, man akzeptiert die damals in der gesamten Alten Welt bis weit in die Bronzezeit hinein verbreitete, kultisch-kosmologische Vorstellung von imaginären Sphärenportalen, die man in der Regel irgendwo fern hinter den Horizonten vermutete. Innerhalb eines solchen Deutungsrahmens wäre das Zwillingsmotiv dann allerdings zwangsläufig auch Sinnbild für eine horizontkalendarische Peilung. Weil solche Sphärenportale in den archaischen Weltbildern im Grunde als jene verborgenen Horizontpassagen gedacht wurden, an denen Sonne, Mond und Finsternisschatten zwischen Unter- und Oberwelt hin und her wechselten. Es liegt nahe, dass diese verborgenen Portale irgendwie im Zusammenhang mit der täglichen und jährlichen Verlagerung des zodiakalen Himmelsstreifens gedacht wurden. Genau das zeigt das Zwillingsmotiv. Ein imaginäres, zeitgebundenes Horizontportal, unmittelbar über dem Tannenbaummotiv als Sonnenwendrichtungsanzeiger.
Wie diese Portale nach den damaligen Vorstellungen genau beschaffen waren, wie sie funktionierten, ob sie bewacht waren und von wem; ob man sie sich als gewaltige, massive Tore vorstellte, die von imaginären Himmelsrindern auf und zu gezerrt wurden, ob die mit Sonne und Mond tagtäglich mitwanderten oder Sonne und Mond sich, hinter dem Horizont verborgen, zu mehreren dort statisch verteilten Passagen in jahreszeitlicher Abhängigkeit hinbewegten, all das ist vollkommen offen. Vermutlich gab es bei derartigen Vorstellungen auch kulturell bedingt, Variationen. Unter anderem solche unterschiedlichen Weiterentwicklungen ursprünglich weitgehend einheitlicher Vorstellungen, könnten zur kulturellen Diversifizierung im neolithischen Europa beigetragen haben.
Beispiele für prähistorische und frühgeschichtliche Vorstellungen von solchen imaginären Horizontportalen lassen sich, wie schon in Kapt. III aufgezeigt, in der gesamten Alten Welt zahlreich finden(Kapt. III/1/28-30.)4
Ein Blick über den Kanal, nach Stonehenge in Südengland, lässt den Bezug zwischen Sphärenportalen und horizontastronomischen Orientierungen überdeutlich werden mit der Symmetrieachse der Anlage und ihrer Verlängerung nach Nordosten zur Sommersonnenwende über die sogenannte „Avenue“. Die im Übrigen das kosmische Band des Zodiakos im Sinne eines von Himmelrindern mit Karren befahrenen Himmelsweges symbolisieren dürfte, auf dem auch der Finsternisstier galoppiert. Wobei die Position der Ekliptik als Pfad der Finsternisse darauf, vom Zentrum der Anlage gesehen, durch den außerhalb derselben errichteten, sogenannten Heelstone markiert wurde, wie schon sinngemäß der Brite Jack H. Robinson 1970 in einem Brief an die Zeitschrift “Nature” publizierte.5

Zurück zur Axt und dem mysteriösen Zwillingsmotiv. Sein Geheimnis offenbart sich, wenn man sich zunächst einmal von jeglichen Gedanken frei macht, darin etwas Gegenständliches sehen zu wollen. Egal, ob nun materiell oder ideell. Dann entpuppt sich das Bildelement als simple mathematische Abstraktion mit zwei möglichen Aussagen. Es steht entweder für „doppelt“ oder für „zwei Hälften“! Welche der beiden Funktionen dem Graveur vorschwebte, sicherte er über die begleitenden Motive gleich mehrfach ab.
So ist zum einen auch das Baummotiv in der Axtspitze in zwei identische Hälften gegliedert. Über dessen Stammlinie, die eine Achse mit den Mitten der oberhalb arrangierten Doppelwinkel bildet, lässt sich auch für das Zwillingsmotiv die Bedeutung zwei Hälften ableiten. Die Frage bleibt: “Wovon zwei Hälften?”
Das Tannenbaummotiv wie auch die vier Doppelwinkelmotive sind zweifelsfrei in eine an- und eine absteigende Hälfte gegliedert. Dasselbe Prinzip zeigen die beiden Dreistriche rechts und links vom Zwillingsmotiv. Die drei schrägen Striche bezeichnen jeweils die maximalen Sonnenstände, unten zu Winterbeginn, mittig zur Tag-und-Nachtgleiche, oben zu Sommerbeginn. Analog zur bildlichen Systematik am Baummotiv, das unten Winter, oben Sommer meint. Auf einer Seite ist der Dreistrich an-, gegenüber absteigend. Übertragen auf das Zwillingsmotiv dazwischen haben wir es also mit einer ansteigenden Hälfte und einer absteigenden Hälfte zu tun. In Verbindung mit den flankierenden Dreistrichen als Symbolik des halbjährlichen Sonnenlaufs resultiert logisch, das Zwillingsmotiv bezeichnet zwei Jahreshälften, eine an- und eine absteigende, sinngemäß also Sommer- und Winterhalbjahr.
Was sich im Umkehrschluss ebenso von beiden Hälften des Zwillingsmotivs auf die beiden Hälften des Baummotivs darunter übertragen lässt. Deren Zahl von jeweils acht Ästen steht also genauso schlüssig jeweils für die gleiche Zahl von Halbjahren. Einerseits die ansteigenden, gegenüber die absteigenden Jahreshälften. Womit dem Baummotiv als Ganzem der Zeitraum: „acht Jahre“ beigemessen werden muss.
Der Widerspruch zur Interpretation des “Astwerks” am Baummotiv auf der Axt von Halle-Radewell ist offensichtlich. Dort hatte ich Striche als Tageseinheiten präsentiert, hier sollen dieselben Striche aber für Halbjahre stehen. Dieser Widerspruch löst sich über das auffällig paarig arrangierte Astwerk auf der Wegwitzer Axt, mit seinen fast synchronen und betont weiten Abständen. Hier geht es offensichtlich nicht um Einzelstriche bzw. “Äste”, sondern um einen Verbund von Strichpaaren bzw. Winkelmotiven zu einer eigenen numerischen Einheit. Die sorgsam ausgeführte Geometrie ist derart auffällig im Vergleich mit allen anderen Stücken dieser Art mit Baummotiv, dass nur der Schluss bleibt, der Graveur hatte mit dem eigens betriebenen Aufwand diesem Element auch einen besonderen Wert beigemessen. Mein Verdacht ging bei der Betrachtung der Axt von Anfang an in diese Richtung. Lange bevor mir die Bedeutungen des Zwillingsmotivs sowie der Motive darüber klar wurden und damit der Zusammenhang zwischen den Bildelementen. Entsprechend fraglich blieb für mich, ob das Astwerk sechzehn oder nur acht Jahre meinte.
Die Art der gegenseitigen Bezugnahme der einzelnen Bildelemente ließ sich auch schon auf der Axt von Halle-Radewell sowohl zwischen dem Tannenbaummotiv und den 19 Kreismotiven im Bogen beobachten, als auch zwischen Tannenbaummotiv und dem Strahlenmotiv um das Schaftloch.
Indikator für die Richtigkeit, Zwillings- und Baummotiv im Sinne einer Halbjahresrechnung begreifen zu müssen, sind die jeweils fünf vertikalen Strichen, die beide Hälften des Zwillingsmotivs füllen. Ordnen wir diesen Strichsymbolen nun tatsächlich wieder Tageseinheiten zu, ergibt sich gleichnishaft zweimal der Wert von fünf Tagen. Mit Hinblick auf die Halbjahressymbolik bleibt dann nur ein logischer Zirkelschluss. Fünf “Tagesstriche” bezeichnen gleichnishaft die rein rechnerische Differenz zwischen einem halben Kalenderjahr des Sonnenlaufs mit 182-183 Tagen und einem halben Mondjahr mit 177-178 Tagen.
Nur haben wir es ja mit zweimal 5 Strichen zu tun! Folglich lässt sich der Begriff „Jahreshälften“ nicht monokausal auf diese lunisolare Beziehung reduzieren! Der augenscheinliche Schwarz-Weiß-Kontrast auch auf dieser Axt legt nahe, dass wir hier auch in Richtung „Finsternisse“ überlegen müssen. Neben der Differenz von rund fünf Tagen zwischen den Hälften des solar und lunar geprägten Jahres dürfte also dieselbe Differenz zwischen dem halben Mondjahr mit 177 – 178 Tagen und dem halben Finsternisjahr mit 173 – 174 Tagen Dauer gemeint sein. (Rein rechnerisch ist die Differenz zwischen rund 177,18 Tagen und 173,31 Tagen kleiner als vier Tage. Aufgrund der Schwankungen beim Mondlauf, aber auch einer ganztägigen Rechnungsweise beim Mondmonat mit 29 bzw. 30 Tagen und beim Finsternishalbjahre mit 173 bzw. 174 Tagen, kann sich der Betrag theoretisch auf 5 Tage maximieren.) Das Zwillingsmotiv stünde demnach für die Zeiteinheit Jahr, definiert aber nicht, welche Jahreslänge konkret gemeint ist. Daraus lässt sich nur ein logischer Schluss ziehen! Der Fertiger des Axtbildes weist uns hier lediglich vorsorglich darauf hin, dass seiner Darstellung eine komplexe, lunisolarkalendarische Zeitrechnung zugrunde liegt, die der Finsternisverfolgung dient. Wie die sich im Detail darstellt, ergibt sich beim “Weiterlesen” der Symbole.
Falls die Bedeutung des Zwillingsmotivs für die prähistorische Forschung in schriftlosen Kulturen jemandem noch nicht recht aufgegangen sein sollte, betone ich die hier gern noch einmal gesondert. Mit fünf einfachen Vertikalstrichen in einem Symbol, das zwei Jahreshälften ausdrückt, ersetzten die Neolithiker ihnen unbekannte große Zahlenbegriffe wie die Jahreslängenwerte 346 (Finsternisjahr), 354 (Mondjahr) und 365 Tage (“Sonnenjahr”) bzw. deren Halbwerte und deren bildliche Umschreibungen mit aufwändigen Zeichengruppen zur gedanklichen Produktsummenbildung! Zumindest auf kalendarischem Gebiet war dies eine durchaus funktionierende, weil wegen der begrenzten Möglichkeiten verständlich bleibende Darstellungsweise. Ich halte das für einen wichtigen Hinweis an alle Skeptiker der Theorie, die Altvorderen könnten keine größeren Mengenbegriffe ausdrücken und hätten nur Begriffe wie “viele” oder “sehr viele” gekannt. Was zuweilen heute noch ethnografische Studien für manche Naturvölker, insbesondere einstige Nomadenvölker ergeben haben, beispielsweise sibirische oder samische Nomaden, die bis vor ein-, zweihundert Jahren noch fast ausschließlich von der Rentierzucht lebten. Gleiches mag für die große Allgemeinheit der Siedler gegolten haben, nicht aber für die geistigen Eliten in den neolithischen Megalithkulturen. Ich gehe davon aus, dass auch bei den von der Rentierzucht lebenden Nomadenvölkern einige geistig herausragende Führer existierten, die Kult, kulturelle Identität und Zusammenhalt im Interesse der Allgemeinheit bestimmten, die sich mit den kosmischen Lichterkreisläufen auskannten und die wussten, wie sich größere Mengen konkret bestimmen ließen.

Letztlich bleibt an dieser Stelle relativ gesichert zu konstatieren: Die beiden unteren Motive auf der Axt vom Fundort Wallendorf-Wegwitz, das Zwillingsmotiv inklusive innerer Schraffur und beiden seitlichen Dreistrichen sowie das Tannenbaummotiv vermitteln eine grundlegende astrokalendarische Basisrechnung mit Halbjahren. Die vermutlich dem Umstand zu verdanken ist, dass die Finsterniszeiten im Rhythmus halber Jahre eintreten! Woraus für die numerische Bewertung des Astwerks am Tannenbaummotiv als solares Symbol der Zeitraum von acht an- und ebenso acht absteigenden Halbjahren, zusammen also von acht Jahren des Sonnenlaufs nunmehr mit einiger Sicherheit resultiert.

Wendet man sich mit diesem Zwischenergebnis nun den Motivgruppen oberhalb des Zwillingsmotivs zu, wird anhand der vier Doppelwinkelmotive eine vertikale Gliederung in fünf Register deutlich. Wobei der unterste Kreis als eigenständiges Register zu verstehen ist. Die Vierzahl der Doppelwinkel als auch die oszillierende Anordnung der mit Hohlbohrern eingedrillten Kreismotive legt die Interpretation als Symbolik für die vier Jahreszeiten bzw. für vier rechnerische Jahresquartale einigermaßen nahe. Schon bei der einleitend groben Erläuterung der Bildmotive hatte ich die Doppelwinkel als Symbole von Zeitabschnitten gedeutet, da beide Satteldachwinkel sinngemäß einen Horizontpunkt meinen, der Zwischenraum aber der Dauer entspricht, in welcher Sonne oder Mond von einem zum anderen gelangen. Hier also dürfte jeder Doppelwinkel ein Quartal meinen. Basierend auf der naheliegenden Annahme, dass die Positionen der Einzelkreise einen Sonnenwendtermin, die Doppelkreise aber die beider Tag-und-Nachtgleichen bezeichen, wenn Sonne und Mond jeweils in die andere Himmelshälfte wechseln. Wobei sich die logische Abfolge der Jahreszeiten von unten nach oben wiederum über das Tannenbaummotiv definiert, beginnend mit dem untersten Kreis als Zeitpunkt der Wintersonnenwende und als Jahreswechsel zwischen achtem und neuntem Jahr. Dann erschließt sich ingesamt, über das Tannenbaummotiv mit seinen acht Astpaaren, dem Zwillingsmotiv im Ganzen als Symbol für die Zeiteinheit “Jahr” und beider Kombination zu: “acht Jahre”, zuzüglich der vier durch Doppelwinkel markierten Register darüber für vier weitere Jahresquartale, ein dargestellter Gesamtzeitraum von neun Jahren.

Abb. 15: Das deckseitige Dekor der Axt von Wallendorf-Wegwitz beinhaltet einen Neun-Jahre-Zyklus. – Praktisch wie die Axt von Halle-Radewell auch, den halben Sarososzyklus.
Erklärungsbedürftig erscheinen lediglich zwei Elemente: das Schaftloch („Axtauge“) als Krönung eines deutlich steiler ausgeführten Doppelwinkelmotivs und der Strahlencrest am oberen Kreismotiv unmittelbar unter dem Bogen des Axtnackens. Erklärungen bedarf es hier insofern, als man statt des Schaftlochs dort ein einzelnes Kreismotiv für den Termin der Sommersonnenwende erwarten durfte. Am obersten Kreis als Symbol der zeitlich abschließenden Wintersonnenwende erscheinen indes Strahlen zumindest fragwürdig, weil sie am untersten Kreis über dem Zwillingsmotiv, der ja ebenso für Wintersonnenwende steht, fehlen.
Beides erklärt sich mit der Finsternisrhythmik bzw. dem rund neunjährigen, halben Saroszyklus der Finsternisse. Wie in Abb. 15 oben dargelegt, lässt sich vertikal auf der Axt ein symbolisierter Zeitraum von neun Jahren festlegen. Das Schaftloch der Axt verweist innerhalb dieses Zeitraums sinngemäß auf ein sich in der Zeit um die Sommersonnenwende öffnendes „Finsternisfenster“ bereits nach rund achteinhalb Jahren.
Voraussetzung für diese Interpretation ist, der dargestellte neunjährige Zeitraum begann mit einer zentralen Finsternis. Dann wiederholt sich das im Prinzip neun Jahre und fünf bis sechs Tage später, also nach 19 Finsternishalbjahren, nur mit umgekehrten Vorzeichen. War der Ausgangspunkt eine totale Mondfinsternis ist es nun eine zentral verlaufende Sonnenfinsternis bzw. umgekehrt. Der Strahlencrest am obersten Kreis als Symbol des Termins der Wintersonnenwende am Übergang vom neunten zum zehnten Jahr symbolisiert hier wiederum die Erscheinung des sogenannten “Diamantringeffekts” unmittelbar vor bzw. nach einer totalen Sonnenfinsternis, meint aber vermutlich im allgemeineren Sinne: “zentral verlaufende Finsternis”! Er belegt so das damalige Wissen des Graveurs, dass die zu diesem Zeitpunkt, nach neun Jahren und fünf bis sechs Tagen eintretende Finsternis erneut zentral ausfallen muss, egal ob sie sich beobachten lässt, ob es eine Sonnen- oder eine Mondfinsternis sein wird, wenn neun Jahre zuvor ebenso eine Finsternis zentral ausfiel.
Skeptiker könnten nun an dieser Stelle einwerfen, alles schön und gut! Aber könnte hier nicht vielleicht einfach nur ein taggenau neun Jahre währender Zyklus gemeint sein, der überhaupt nichts mit Finsternissen zu tun hat? Wo ist der Beleg dafür, dass wir es hier tatsächlich mit dem halben Saroszyklus und nicht mit einem völlig anderweitig begründeten, genau neunjährigen Kult- oder Kalenderzyklus der Salzmünder zu tun haben?
Hier nun werden sich wieder die Geister bei meiner Interpretation scheiden. Seltsamerweise besteht der Strahlenkamm am obersten Kreismotiv ausgerechnet aus sechs Strichen. Wertet man die wiederum als Tageseinheiten, wie zuvor schon die Schraffen im Zwillingsmotiv, ließe sich das als sechs weitere Tage deuten, die zu den bisher symbolisierten neun Jahren hinzu gerechnet werden müssten. Dann ergäbe sich der perfekte halbe Sarsozyklus mit taggenauer Angabe (3293 Tage, entsprechend rund 111,5 synodischen Monaten) nach heutigem Wissen.
Das unterstellt allerdings eine damalige Jahresrechnung mit der Genauigkeit von im Mittel rund 365,25 Tagen. Schaut man sich den Strahlenkamm genauer an, sind die beiden mittleren Striche v-förmig arrangiert, die je zwei rechts und links davon aber parallel zueinander. Ich bin nicht ganz sicher, ob sich dahinter so etwas wie eine Toleranz von plus/minus zwei Tagen um den eigentlichen Ereignistag verbirgt. Vielleicht bezeichnet das Symbol tatsächlich einen Neumondtermin, bei dem die Unsicherheit seines exakten Eintretens, wegen der zeitweiligen Unsichtbarkeit des Mondes über mehrere Tage mit besagter Toleranz symbolisiert wurde. Dann ergäbe das Axtbild temporär den Verweis auf den ersten Neumond nach dem Termin der Wintersonnenwende am Übergang vom neunten zum zehnten Jahr. Wobei dennoch der Strahlencrest bzw. die Strahlenkrone logischerweise nicht für den unsichtbaren “Neumond”, sondern, unter diesen Bedingungen konkret, für “zentrale Sonnenfinsternis” stehen würde. So oder so müsste der Schluss gezogen werden, dass hier der halbe Saroszyklus gemeint ist, sinngemäß also nach heutigem Wissen ein Zeitraum von neun tropischen Jahren und sechs Tagen, bzw. 111,5 synodischen Monaten bzw. 19 halben Finsternisjahren.
Wenn ich auch überzeugt bin, hier hat der salzmünder Axtgraveur den halben Saroszyklus im Sinn gehabt, bin ich in der detaillierten Interpretation des obersten Kreises mit Strahlencrest unsicher. Vor allem auch, weil diese Auslegung eine zentrale Mondfinsternis bedingt zu Beginn des hier geschilderten neunjährigen Zeitrahmens. Die Axt scheint eine solche Bezugnahme zumindest vorderseitig nicht zu stützen. Es sei denn, man betrachtet die vertikale Anordnung der Motivzeilen als in sich wiederkehrenden Bildreigen. Dann wäre der oberste Kreis ebenso Ausgangs- und Endpunkt für den betrachteten Halbzyklus wie auch erneuter Startpunkt für den nächsten neunjährigen Kreislauf als zweite Hälfte des Saroszyklus. Man müsste lediglich dem obersten Kreis mit Strahlencrest abwechselnd die Bedeutung “MoFi” und “SoFi” zukommen lassen. Alternativ müsste das ganz ähnliche, an vergleichbarer Position drapierte Strahlenbündel auf der Rückseite in diese “Kreislauf”-Betrachtung einbezogen werden.
Aufgrund meiner begrenzten astronomischen Fähigkeiten kann ich hier nur versierte Experten ersuchen, sich der Theamtik der Bilddeutung anzunehmen, um hier notgedrungen offen bleibende Fragen wie auch die erwähnten Unsicherheiten auszuräumen oder gegebenenfalls auch Fehler meiner Betrachtungen in konstruktiv unterstützender Weise richtigzustellen. Wobei ich auch versierte Ikonologen ansprechen möchte. Denn bei dem ähnlich gelagerten Strahlenbündel an gleicher Position auf der Rückseite der Axt scheinen die Strahlen sämtlich v-förmig geschachtelt angeordnet. Was vielleicht eine zentral verlaufende Finsternis beim strahlenden Vollmond symbolisiert? Findet sich hier vielleicht der Ausgangspunkt für den Bilderkreislauf, der dann vor- udn Rückseite einbeziehen muss?
Ob die bildsprachliche Terminierung der Finsternisse über die Sonnenwendtermin nur allegorisch zu verstehen ist, bleibt fraglich. Obwohl das nicht mit der fortlaufenden Verfolgung des Saroszyklus vereinbar ist, könnten Jahre, in denen sich gleich drei Finsternisfenster zwischen Jahresbeginn und -ende öffnen, damals von hoher kultischer Brisanz gewesen sein. Meinetwegen, weil sie den Geburts- und Sterbezyklus des kosmischen Finsternisstieres anzeigten. Dessen Tod und ritulle Bestattung alle 18 Jahre vielleicht zugleich die rituelle Einsetzung eines Kalbes an seiner Statt verlangte, um etwa die kosmischen Kräfte von Licht und Finsternis, damit aber auch von Tag und Nacht, von ansteigender und absteigender Jahreshälfte, eigentlich also das gesamte kosmische Regelwerk im vermeintlichen Gleichgewicht bzw. in Gang zu halten.
Entspricht nun der abgebildete Gesamtzeitraum sinngemäß exakt 19 halben Finsternisjahren, bot sich, wie bereits erwähnt, auch schon ein Finsternissemester früher, nach 18 halben Finsternisjahren, auf das Axtbild gemünzt am Schaftloch, die Möglichkeit für eine zentrale Finsternis. Hier fehlte das den Sonnenwendtermin anzeigende Kreismotiv. Der am Original der Axt zumindest gegenüber dem Doppelwinkel darunter etwas steiler ausgeführte Doppelwinkel unter dem Schaftloch symbolisierte vermutlich: “steiler Sonnenbogen” und zeigt so den Sonnenhöchststand zu Sommerbeginn an.
Rechnerisch nun datiert die Mitte dieses Finsternisfensters, wenn der Ausgangspunkt eine zentrale Finsternis vor taggenau 8,5 Jahren war, 15 Tage später als der sommerliche Sonnenwendtermin. Der letzte Voll- bzw. Neumondtermin tritt unter derselben Bedingung rechnerisch nach 8,5 tropischen Jahren und rund 11 Tagen ein, also vier Tage früher. Diese vier Tage Differenz vor der Mitte des Finsternisfensters aber gestatten, dass eine Mondfinsternis gerade noch, eine Sonnenfinsternis zu diesem Termin sowieso total ausfällt. Jedenfalls irgendwo auf der Welt! Unabhängig davon, ob man diese Finsternis vom heutigen Gebiet Sachsen-Anhalts aus hätte einsehen können oder nicht.
Analysiert man die Beziehung des etwas steiler konzipierten Doppelwinkels mit dem Schaftloch genau, zeigt sich, dass letzteres nicht tatsächlich dessen Spitze krönt, sondern selbige gekappt hat. Dahinter steckt meines Erachtens die Absicht des Graveurs zu zeigen, dass eben die Mitte des Finsternisfensters nach 18 Finsternishalbjahren zeitlich nicht exakt mit dem Sonnenwendtermin zusammenfällt, dieser jedoch knapp innerhalb des Zeitfensters liegt. Was zugleich die Absicht des Graveuer intendiert, das Schaftloch im Sinne eines “Finsternisfensters” (“Bulls eye“?) sehen zu müssen. – Analog zur Axt von Halle-Radewell.

Geht man noch ein weiteres Finsternishalbjahr zurück, zu Nr. 17 (entsprechend der Position des untersten Kreismotivs), fällt dessen Mitte mit einem Termin rund 24 Tage nach der Wintersonnenwende zwischen achtem und neuntem Jahr zusammen. Dauert ein solches Finsternisfenster mittlere 33 Tage an, müssen also 16 bis 17 Tage vom Termin subtrahiert werden, um den Eröffnungstermin des Finsternisfensters zu finden. Die vorangegangenen acht tropischen Jahre entsprechen bis auf minus anderthalb Tage 99 synodischen Monaten (= 2923,53 d). Der nächstgelegene Voll- oder Neumondtermin tritt also anderthalb Tage nach dem Sonnenwendtermin ein. Rechnerisch öffnet sich somit das Finsternisfenster erst 5 bis 6 Tage nach diesem Monddatum. Eine wie auch immer geartete Finsternis ist folglich erst beim nächsten Voll- bzw. Neumond 14 bis 15 Tage später möglich. Der dem Termin der Wintersonnenwende am Übergang vom achten zum neunten Jahr nächstgelegen Voll- bzw. Neumond hat folglich keinen zeitlichen Berührungspunkt mit diesem Finsternisfenster. Eine Finsternis in den Tagen um die Wintersonnenwende am Übergang vom achten zum neunten Jahr ist praktisch ausgeschlossen. Weshalb der unterste Kreis, als Winterwendsymbol am Übergang vom achten zum neunten Jahr, ohne Strahlenkrone blieb.
Damit bestätigt die Axt von Wallendorf-Wegwitz insgesamt eindrucksvoll das auf der Axt von Halle-Radewell dokumentierte Finsterniswissen und umgekehrt. Die Salzmünder waren zu ihrer Zeit während der zweiten Hälfte des 4. Jt. v. Chr. sicher in der Lage, sowohl die Zeiten für mögliche Finsternisse im Voraus zu bestimmen, als auch, wann eine totale und wann lediglich eine partielle Finsternis zu erwarten war. Sie wussten zumindest um die Periodik des halben, sehr wahrscheinlich aber auch um die achtzehnjährige Dauer des kompletten Saroszyklus. Wobei sie diesen vermutlich noch nicht als relevanten Zyklus zur Voraussage aller möglichen Finsternisse in diesem Rhythmus erkannt hatten, sondern ihn in Bezug auf die halbjährlichen Sonnenwendtermine als eine Art „Großjahr“ im Sinne des Kreislaufs der Finsterniszeiten erachteten. Beziehungsweise galt er den Menschen damals vielleicht als Zyklus, in welchem sich die verborgenen Horizontportale der sphärischen Übergänge zwischen Ober- und Unterwelt, über welche die kosmischen Mächte der Finsternis in die diesseitige Sphäre zu gelangen vermochten, einmal im Kreis herumbewegt hatten oder das “bull’s eye” des kosmischen Finsternisstieres einmal den Zodiakos umrundet hatte, zur Hälfte als nächtliche Erscheinung der Mond-, zur anderen Hälfte als tägliche Erscheinung der Sonnenfinsternis.
Was vielleicht weniger weit her geholt sein könnte, als mancher meint. Denn eine totale Mondfinsternis, die sich nach achtzehn Jahren im Sternbild “Taurus” (“Stier”), beim rot funkelnden Stern Aldebaran (dem “Augenstern” im Sternbild “Taurus”) wiederholt, würde eine solche Analogie im Zusammenhang mit dem Saroszyklus durchaus nahelegen.
4.7.2 Deutung der Rückseite der Axt von Wallendorf-Wegwitz

Abb. 17: Rückseite der Axt von Wallendorf-Wegwitz.
Wie schon bei der Halle-Radeweller Axt bietet auch die Rückseite der Axt von Wallendorf-Wegwitz eine imposante Erweiterung oder Ergänzung zum vorderseitig präsentierten Finsterniswissen. Mag man auf der Vorderseite noch bezweifeln, dass der Strahlencrest am obersten Kreis tatsächlich als Sinnbild des „Diamantringeffekts“ bei einer totalen Sonnenfinsternis eine zentral verlaufende bzw. totale Finsternis meint, schließt die Rückseite der Axt jeglichen Zweifel daran beinahe aus.
Entlang der Axtperipherie arrangierte der Steinzeitkünstler hier 32 Einzelstriche in acht Vierergruppen. Die aber sind, unter gedanklicher Einbeziehung des Strahlenbündels im Bogen des Axtnackens, sinngemäß im durchgängigen Bogen über den Axtnacken hinweg formatiert. Das Strahlenbündel im Bogen des Axtnackens bildet somit das Zentrum der Formation. Es ist nicht nur recht ähnlich mit dem an gleicher Position vorderseitig befindlichen „Strahlencrest“, sondern symbolisiert genau wie jener dort eine totale Finsternis von Sonne oder Mond exakt in der Mitte eines Finsternisfensters (Hier ohne eigene Tageswertung sondern als reines Symbol: “Diamantringeffekt” für: zentrale Finsternis oder, wie eben schon spekuliert, als Symbol einer totalen Finsternis des leuchtenden Vollmondes.). Logischerweise entspricht dann das Arrangement der symmetrisch verteilten zweimal 16 peripheren Striche zuzüglich dem Strahlencrest als Zentrumseinheit der Dauer oder Weite eines Finsternisfensters mit 33 Tagen. Eine Symbolik, die sich artverwandt bereits mit den 33 kurzen Strahlen rund ums Schaftloch der Halle-Radeweller Axt ergeben hatte.
Auch hier lassen sich die Strichformationen mit relativer Eindeutigkeit auf das zentrale Schaftloch beziehen, dass demnach gleichnishaft für „Finsternisfenster“ steht. Womit sich dieselbe Auslegung des Schaftlochs als allegorisches Finsternisfenster innerhalb der vorderseitigen Deutung bestätigt.
Allerdings erklärt sich damit noch nicht, warum die 32 peripheren Striche, die in vorstehender Deutung 32 Tageseinheiten entsprechen, sämtlich in Viergruppen arrangiert wurden! Ich nehme recht zuversichtlich an, das bezieht sich auf den Semesterzyklus der Finsternisse. Da das Finsternishalbjahr mit 173,31 Tagen rein rechnerisch um rund 4 Tage kürzer ist, als der Zeitraum für sechs synodische Monate mit rund 177,18 Tagen, sind ebenso rechnerisch maximal acht Finsternisse in Folge möglich. Dann hat sich die Differenz von vier Tagen zu: 8 x 4 = 32 Tagen multipliziert. Der Zeitraum des Finsternisfensters ist ausgeschöpft. Das Fenster schließt sich und ein neuer Semesterzyklus beginnt. Die Rückseite bestätigt damit ausdrücklich, dass es hier insgesamt um die Rhythmik der Finsternisse geht und nicht um irgend einen öminosen Kultzyklus von vielleicht taggenau neun Kalenderjahren.
Vielleicht am ehesten auf dieser Axt stellt sich mit den peripher arrangierten Strichgruppen entlang des augenähnlichen Umrisses der Axt die dringende Frage, ob sie nicht gar zwingend als Wimpernkranz um das bull’s eye gedeutet werden müssen?
4.7.3 Das Rätsel der Wangenrillen
Abschließend sei noch ein Gedanke zur fragwürdigen Eigenheit fast aller bekannten Exemplare der dekorierten Steinäxte sächsischen Typs verloren. Entlang der Axtwangen weisen sie typischerweise drei weitgehend parallel zueinander umlaufend eingravierte Rillen auf. Ich bin diesbezüglich zwar um eine Antwort nicht verlegen, bin mir deren Richtigkeit aber auch nicht hundertprozentig sicher. Meines Erachtens repräsentieren die drei Rillen sinngemäß den achtzehnjährigen Saroszyklus. Sie bezeichnen prinzipiell 1., 9. und 18. Jahr des Zyklus bzw. kultisch übertragen die Lebensabschnitte des Himmelsstieres der Fisternisse bzw. sich im Zyklus neunjährig ablösender Himmelsrinder.
Jedenfalls begegnet uns dieselbe Art der gleichnishaften Dokumentation des Sarsozyklus über erstes, neuntes und achtzehntes Jahr einschließlich Rindersymbolik zeitgleich bei der den Salzmündern benachbarten Wartbergkultur (s. Kapt. VIII), ohne Rindersymbolik im ebenfalls etwa zeitgleichen neolithischen Ganggrab von Gavrinis an der bretonischen Atlantikküste (Siehe Kapt. VI.) und um vieles später erneut auf einer Sandsteinstele der bronzezeitlichen mykenischen Kultur (Siehe Kapt. III/2.).6 7
In wenigstens einem Fall lassen sich zweifelsfrei vier solche Rillen nachweisen – auf der Axt von Günzerode. Eine plausible Erklärung für diese Abweichung habe ich nicht zu bieten. Eventuell könnte es sich um eine Symbolik des Kreislaufs der Finsternisse durch die vier Jahreszeiten handeln, sinngemäß also um eine Allegorie für ein “Großjahr der Finsternisse”. Vielleicht aber hat der Erzeuger dieser Axt 1., 9. und 18. Jahr nicht mit den schmalen Rillen selbst, sondern mit den breiteren Räumen zwischen den Rillen bezeichnen wollen. Denkbar wäre natürlich ebenso, dass die Axt von Günzerode inhaltlich etwas anderes als den Saros thematisiert, vielleicht einen anderen Finsterniszyklus.
Letzteres Argument unterstellt indirekt jedoch, dass dann zumindest alle Äxten mit drei Wangenrillen den Saroszyklus beziehen. Da ich lediglich zwei dekorierte Äxte halbwegs sinnvoll zu entschlüsseln vermochte, scheint mir eine solche Schlussfolgerung unangemessen. Weshalb ich das Thema mit dem Gesagten auf sich beruhen und alles Weitere künftigen Forschungen anheim fallen möchte.
Footnotes
- Abbildungen finden sich z.B. in Walter Torbrügge: “Europäische Vorzeit”, Reihe: “Kunst im Bild – Der neue Weg zum Verständnis der Weltkunst”, Naturalis Verlag, ohne Erscheinungsdatum, S. 73 – Foto s.w. mit Axt von Halle-Radewell und Raßnitz; dieselben drei als Foto unter: https://st.museum-digital.de, Stichwort: Prunkäxte der Salzmünder Kultur.
- Angaben nach Jörg Lechler: „Die reichverzierten Steinäxte des sächsischen Typus“, Mannus-Bibliothek Nr. 22, S. 1-10 u. Bildtafel I, Verlag Kurt Kabizsch, Leipzig 1922, S. 5 u.
- Nach Jörg Lechler, ebenda: „Die reich verzierten Steinäxte“, 1922 sowie eigener Inaugenscheinnahme im Landesmuseum Halle-/Saale.
- Selbst noch im mittelalterlichen Märchen von Frau Holle spielen zwei solche Sphärenübergänge zwischen den Welten eine Rolle. Der eine ist der Brunnen als spiegelnde Wasserscheide zwischen den Welten des Lebens und des Todes, also von der Ober- in die Unterwelt. Eine Vorstellung, die schon die Opfer in Seen und Mooren der Bronze- und Eisenzeit in Europa erkennen lassen. Der andere ist bei Frau Holle das (Himmels-?)Tor der Belohnung mit Gold (vielleicht östl. Aufgangsportal) oder Pech (vielleicht westl. Untergangsportal). Frau Holle kontrollierte also (analog zur griechischen Göttin Hekate) die Sphärenübergänge, Richtung Unterwelt und zurück in die Oberwelt. Ein Gleichnis, das noch immer entfernt auf die Sphärenwechsel von Licht und Finsternis anspielt, ergo auf die einstige Vorstellung von zodiakalen bzw. ekliptikalen Sphärenübergängen. Weshalb die Handlungen bei Frau Holle, wie das Schneeflocken bringende Bettenschütteln, auch am Himmel stattfinden können. Das Gleichnis von der blutgetränkten Garnspule, mit der alles beginnt, lässt sich sogar als Anlehnung an den Ariadnefaden interpretieren, was die gesamte Geschichte nicht nur mit den Lichterkreisläufen entlang der Ekliptik verknüpft. Denn die Gleichnisse vom Apfelbaum und vom Backofen symbolisieren auch die Bedeutung des solaren Lichterkreisens für die irdische Fruchtbarkeit! Was freilich nur denen etwas einbringt, die sich dafür fleißig ins Zeug legen, während die Faulen übertragen der Fäulnis, der Finsternis, im Sinne des Heraufbeschwörens des unterweltlichen Erebos Vorschub leisten.
- Edwin C. Krupp (Hrsg.): “Astronomen, Priester, Pyramiden – Das Abenteuer Archäoastronomie”, C. H. Beck, München 1980, S. 128/129.
- Zur kultischen Bedeutung der Neunzahl in Europas Vor- und Frühgeschichte sowie den Neunbogenvölkern Altägyptens vergleiche auch Kapt. II/4, Fußnote 28.
- Vergleiche hierzu ferner die Erklärungen zum homerischen Enneoros, darunter die neunjährige Erneuerung der Regierungszeit des Minos, aber auch der Verbannungsstrafen für griechische Götter von neun oder gar zweimal neun Jahren schon nach Hesiod und andere Jahres-Enneaden, insbesondere S. 21-27, in: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): „Enneadische Studien: Versuch einer Geschichte der Neunzahl bei den Griechen, mit besonderer Berücksichtigung des ält. Epos, der Philosophen und Ärzte”, Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Bd. XXVI/1, Verlag B. G. Teubner, Leipzig 1907, erschienen 1909, S. 1 – 170; online Reproduktion SLUB Dresden: digital.slub-dresden.de; zuletzt eingesehen 14.06.2025.