Kapitel II

2.1
Europa – personifizierte Mondfinsternis

Seit Gründung der Europäischen Union publizierten diverse Autoren Aufsätze, teils philosophischer Natur, über Herkunft und Bedeutung des Namens unseres Kontinents. Regelmäßig findet sich darin auch der Stierritt der Europa erwähnt. Ebenso regelmäßig aber mangelt es den Traktaten an der doch eigentlich naheliegenden Rückbesinnung darauf, dass der Entführer der Europa, Allvater Zeus, in der mykenisch-griechischen Kulturentwicklung nicht ohne kosmologischen und konkret astronomischen Hintergrund zu denken war. Warum spielt das zwar in der Mythenrezeption eine überragende Rolle, siehe Karl Kérenyi oder Robert von Ranke-Graves, kaum aber, wenn es um die kulturhistorische Bedeutungsklärung des Namens unseres Kontinents geht?

Meines Erachtens verweist das auf eine bedeutsame Lücke im wissenschaftlichen Verständnis der gesamten vor- und frühgeschichtlichen, europäischen Kulturentwicklung die in hohem Maße von kosmologischen und astronomischen Erkenntnissen und deren Umsetzung in kultisches und damit gesellschaftsprägendes Brauchtum mitbestimmt wurde. Diese für mich klaffende Verständnislücke betrifft die eigentlichen, vorantiken Wurzeln abendländischer Kulturprägung, weshalb sich die antiken griechischen und römischen Weltsichten, trotz zahlloser Anlehnungen an orientale Weltbilder, deutlich von den morgenländischen unterschieden. Was ja offensichtlich schon in antiker Zeit so wahrgenommen wurde und zur ideellen, schließlich auch zur geographischen Differenzierung zwischen Abend- und Morgenland führte.

Abb. 1: „Europa auf dem Stier“ – Bronzeplastik, Entwurf von Nikos Koundouros, gefertigt von Nikos und Pandelis Sotiriadis, eingeweiht 03.11.2012 in Agios Nikolaos, Ostkreta. Europa wirbt mit Taube und Kugel symbolhaft für globalen Frieden und Völkerverständigung. (Foto: Autor)

Abendland bedeutet doch zunächst einmal Land, das in Richtung Sonnenuntergang liegt. Also dort, wo das Licht stirbt und damit sinngemäß das Reich der Dunkelheit, der Schatten beginnt, dass sich von dort an irgendwo verborgen hinter dem Horizont bis zum Osten ausdehnte, aus dem das Licht allmorgendlich neu ersteht. “Abendland” assoziiert folglich Begriffe wie Nacht, Dunkel, Schatten, Unterwelt, Altern, Tod und Vergänglichkeit. Was wiederum gleichnishaft schon früh auch auf das Phänomen der kosmischen Finsternisse von Sonne und Mond übertragen wurde. Das wiederum generiert den Zirkelschluss, Europa, das Abendland, könnte in frühgeschichtlicher Zeit auch als “Heimat der Finsternisse” verstanden worden bzw. gemeint gewesen sein. Vor allem dann, wenn im Kontext kosmischer Finsternisse hier ausgeprägte Kulte und Opferriten zelebriert wurden oder Schicksalsurteile vom Eintreten oder Ausbleiben prophezeiter Finsternisse abhingen.

Was in dieser abstrakten Formulierung weit hergeholt erscheint, hat durchaus auch etwas für sich! Man denke dabei an die frühen Vorstellungen der Ägypter. Bei denen war Chaosgott Seth ursprünglich auch Finsternisgott. Der trat neben seiner menschlichen Gestalt auch als schwarzer Stier in Erscheinung. Sein Refugium wurde fern im Westen, weit hinter dem Horizont verortet, wo er zumeist unter den Fremdvölkern Unheil anrichtete. Wie kamen die alten Ägypter auf diese Idee? Was hat sie bei diesem Weltbild inspiriert? Waren es analoge Vorstellungen von kosmischen Rindviechern als Trägern des Lichts und einem ebensolchen finsteren Widersacher, die womöglich schon ein bis zwei Jahrtausende früher in Europa entwickelt wurden?

Erstaunlich erscheint aus diesem kritischen Blickwinkel, dass sich die Sammlung „kretischer“ Astralmythen der antiken Griechen im Kern ausschließlich um das Thema Eklipsen drehte sowie um mit diesen einhergehende Erscheinungen. Die Betonung liegt hier auf “kretisch”! Die Griechen verweisen in diesem Mythenkreis also mindestens auf bronzezeitliche Verhältnisse des 2. Jt. v. Chr. Doch nimmt sich der gesamte Mythenkomplex wie ein kulturhistorischer Abriss europäischer Erkenntnisgewinnung zur Finsternissystematik aus antiker Persepktive aus, der einen weiten Bogen von der Kupfersteinzeit bis zu den Anfängen griechischer Astronomie schlägt. Beteiligte Götter, Heroen, einfache Sterbliche, jegliche Handlungen, Handlungsorte, Namen, Verwandtschaftsbeziehungen, Tiere, Bauwerke, Gegenstände, Personenzahlen – beinahe jedes Wort ist Analogie, Sinnbild oder Metapher in diesem Sinne. Eingangs aber steht die Mythe um die Entführung der von Göttervater Zeus der Griechen als Ahnherrin minoischer Herrschergeschlechter Auserkorenen. – Europa.

Das letzte antike Großwerk zur Mythologie der Griechen und Römer, die “Dionysiaka” des Nonnos von Panopolis (5. Jh.), widmet sich dem Wirken des überaus ambivalenten Gottes Dionysos. Was den Autor nicht daran hinderte, in dem zweibändigen Werk praktisch den gesamten antiken Mythenschatz zu tangieren. Einläuten aber lässt Nonnos seine mythologische Abhandlung mit dem Raub der phönizisch Schönen namens Europa durch Zeus in Stiergestalt. Ganz so, als gehöre ausgerechnet dieser Mythos an den Beginn europäischer Kulturgeschichte.

Seltsamerweise verknüpft er dann aber die Story um Europa mit dem Wüten des Drachens Typhon.1 Beide Mythen haben nichts miteinander zu tun. Der einzig erkennbare Grund scheint, dem Autor diente die zweite Mythe als historischer Zeitbezug für die erste. Wie schon Hesiod (8./7. Jh. v. Chr.) in seiner „Theogonie2 oder Apollodoros von Halikarnassos (1. Jh.) in seiner “Bibliothek”, I. Buch, Kapt. 6, in Abs. 3 (I/6/3), identifizierte auch Nonnos den drachenartigen Typhon mit den typischen Erscheinungen einer Vulkaneruption. Er verwies allerdings, weit ausführlicher und daher stärker als bei Hesiod oder Apollodor erkennbar, auf ein gewaltiges Ereignis in unmittelbarer Meeresnähe.

Das typhonische Ungeheuer, von Gaia (Erde) mit dem abgründigen Tartaros (tiefster Teil der Unterwelt) gezeugt3, wollte die kosmische Macht der Götter an sich reißen. Es forderte die Götter heraus und gebarte sich derart entsetzlich, dass ein Großteil derselben sich, dem Mythos nach, an den Nil nach Ägypten flüchtete und sich dort verbarg.

Die von Nonnos in Anbetracht seiner sonst überbordenden Sprachbilder erstaunlich knapp bemerkte Flucht der griechischen Götter, sinngemäß beschränkt auf den Vers: ‘den Zugvögeln gleich in Scharen an den Nil‘4, dürfte, wie Robert von Ranke-Graves in: „Griechische Mythologie – Quellen und Deutung“ zur Mythe um Typhon reflektierte, im Zusammenhang mit der teilweisen Zerstörung der Insel Thera durch den Vulkanausbruch des Santorin zu begreifen sein.5 6

Der Santorinausbruch auf Thera ging, modernen Erkenntnissen folgend mit einer gewaltigen Eruptionswolke einher, an die 40 km hoch. Anhand nachgewiesener Ablagerungen im Mittelmeer zog die ost- bis südostwärts.7 Die weit in die Stratosphäre hinaufreichende, die Sonne verdunkelnde Asche- und Gesteinswolke dürfte in den Mythen zum Gleichnis dafür geworden sein, dass sich die Götter, dahinter verborgen, im wahrsten Sinne des geflügelten Wortes, Richtung Ägypten ‘aus dem Staub machten‘.

Erst seit relativ kurzer Zeit wissen wir, dass sich die vulkanische Tragödie auf Thera im späten 17. Jh. v. Chr. ereignete.8 Zu dieser Zeit der jüngeren Paläste stand die minoische Kultur auf Kreta, die als erste in Europa hochkulturelle Anzeichen erkennen ließ, kurz vor ihrer vollen Blüte. Ebenso erklomm etwa um diese Zeit die mykenische Kultur auf dem Festland ihren Zenit.

Man könnte meinen, Nonnos markierte mit dem Santorin-Inferno als Zeitmarke so gleichnishaft den europäischen Kulturstart, wofür er die Metapher von der Entführung der Europa durch Zeus nach Kreta zeitlich hier ansiedelte. Weder aber ist dem so, noch würde man mit dieser Auffassung der mythischen Bedeutung der Europa gerecht! Nonnos ging es in seiner „Dionysiaka“ ja nicht darum, Europas Entführung zeitlich einzuordnen. Ihm lag vielmehr daran, mit der Santorin-Explosion einen zeitlichen Anhalt für die Ankunft des Gottes Dionysos in Europa zu setzen, dem sein Werk ja eigentlich gewidmet war. Die demnach etwa mit der Blütezeit der minoischen und mykenischen Kultur Mitte des 2. Jt. v. Chr. einherging, wenn auch die archäologischen Belege dafür erst zwei, drei Jahrhunderte später ansetzen. Da es sich aber im Wesentlichen um schriftliche Belege in der entzifferten mykenischen Linear-B-Schrift handelt, die erstmals namentlich auf einen bereits kultisch etablierten Dionysos verweisen, liegt eine deutlich frühere Einführung des Gottes in Kult und Kosmologie der Mykener, vielleicht sogar schon der Minoer nahe. Zu Dionysos ließen sich ein eigenes Kapitel schreiben, was seine kosmologische Bedeutung als Gott angeht, seinen Bezug zu den Finsternissen und was die zahllosen mit ihm verbundenen antiken Symbole und Gleichnisse bedeuten.

Europa ist, ihrer mythischen, phönizischen Heimat zum Trotz, Ureuropäerin! Sie ist die personifizierte, totale Mondfinsternis. Sie repräsentiert göttlich anthropomorphisiert den “Blutmond”! Ihr lunarer Finsternisbezug leuchtet sofort aufgrund ihrer elterlichen Abstammung ein. Nach dem antiken Autor Moschos (2. Jh. v. Chr.) gilt Telephassa als ihre mythische Mutter.9 Der Name bedeutet nach Karl Kerényi 10: „… »die weithin Leuchtende« …“, was Kerényi als Synonym für den vollen Mond interpretierte.11 12

Abb. 2: Mondfinsternis vom 28.09.2015, leider etwas unscharf und überbelichtet. Die Finsternis war total. Auf dem Foto verlässt der Vollmond bereits wieder den Kernschatten, der hier eher rötlich braun erscheint. Die beleuchtete Seite befindet sich noch immer im Halbschatten der Erde. Deutlich lässt der runde Schattenrand erkennen, um wieviel größer der Erdschatten selbst noch in rund 384.000 km Entfernung gegenüber der Krümmung des Mondradius ist.

Ähnlich verhält es sich mit einer früher erwähnten Mutter der Europa bei Pherekydes von Athen13. Demnach stamme sie von Argiope ab.14 Nach Kerényi bedeutet Argiope: „… »die mit weißem Gesicht« …“. Auch das münzte Mythenspezialist Kerényi auf den Mond.15

Väterlicherseits, so schon bei Homer (8./7. Jh. v. Chr.) in der „Illias“ zu lesen, stammte Europa von König Phoinix ab.16 Der galt, wiederum Kerényi folgend, als Stammvater der Phönizier, stand aber, namentlich übertragen, auch für das aus Meeresschnecken gewonnene „Phönizisch Rot“ oder Purpur. Was farblich wie geografisch Phoinix mit dem östlichen Morgenrot verbindet.17

Folgt man in der Frage der Vaterschaft Homer, resultiert für die Tochter Europa nach Phoinix (Rot)18 und nach ihrer Mutter Telephassa bzw. Argiope (Vollmond) mythisch genealogisch die Identifizierung als der im Osten, über Phöniziens Stränden, total verfinstert, daher typisch rötlich kupfern aufgehende Vollmond.19

Die gleichsam über beide Wangen rosig erregt, im Osten „erblühende“, lunare Europa weckt mit ihrem Erscheinen bei Allvater Zeus animalische Triebe. Seine ebenso animalische Gestalt des Stieres, in welcher er sich der jugendlich Schönen am phönizischen Strande nähert, um sie westwärts über das Mittelmeer zu entführen, ist ebenfalls reine Metapher. Sie steht für seinen Asterismus, das Sternbild „Stier“ (lat.: „Taurus“), wie schon Nonnos mitzuteilen wusste.20 Seinerseits Metapher sowohl für den gesamten Ekliptikkreis, den der „Stier“ einst – in der Kupfersteinzeit (griech.: Chalkolithikum), dem Stierzeitalter – nahe dem Frühlingspunkt auf der Ekliptik anführte. Nonnos spricht in der “Dionysiaka, lt. Übersetzung von Thassilo v. Scheffer, vom “Stier” als: “Wachend über des Frühlingsphaëtons fröhlich betautem Rücken …”. Gemeint ist der gemeinsame oder der heliakische Aufgang von “Stier” und Sonne im Osten zu Frühlingsbeginn. Die morgendliche Frühlingsfrische, poetisch mit “Morgentau” umschrieben, benetzt sinnbildlich den oberen Sonnenrand (Phaëtons Rücken) beim scheinbaren Sonnenaufgang aus betauten Wiesen und Weiden. Was nicht nur eindeutig belegt, dass man zumindest in der Spätantike um ein weit zurückliegendes, zodiakal bestimmtes “Stierzeitalter” wusste. Nonnos scheint an dieser Stelle die Entführung der Europa wissentlich vor sein noch junges “Zeitalter der Fische” und vor das davorliegende “Zeitalter des Widders” einzuordnen. Was im deutlichen Widerspruch zu seiner weiter vorn erörterten, mythologischen Gleichsetzung der Entführung der Europa mit dem Santorininferno Mitte des 2. Jt. v. Chr. im “Widder-Zeitalter” steht. Dieser Widerspruch lässt sich auflösen, wenn dort Nonnos die Absicht unterstellt wird, mit dieser zeitlichen Gleichsetzung das europäische Wissen um die Ekliptik als Bahn der Finsternisse mit der kulturellen Hochphase der minoischen Kultur verknüpfen zu wollen. Was durchaus naheliegen könnte, da Nonnos im Zusammenhang mit dem Wüten des Typhon diverse Sternbilder beschreibt. Er scheint daher in astralen Fragen nicht ganz unbeleckt gewesen.)] Der animalisch triebhafte “Stier” symbolisiert im Mythos einerseits kosmische Potenz im Sinne von “Zeugung” als Gleichnis für die permanente astronomische und kosmologische Wissenserweiterung der Menschen. Zugleich aber steht der astrale, nächtliche “Stier” auch für die dunkle, unterweltlichen Seite der Ekliptik, in die das Sternbild ja für mehrere Monate im Jahr abtaucht, bringt also Zeus mit dem Phänomen der ebenfalls dem unterweltlichen Erebos entstammenden Finsternisschatten in Verbindung.

Der mythische Ritt der Europa auf dem Stier über das Mittelmeer steht denn in der Tat sinnbildlich übertragen in erster Linie für den ekliptikalen Weg des nächtlichen Vollmondes von Ost nach West im Verlauf der Finsternis. – Von Hellas Gestaden aus betrachtet. Es ist zwar das Stierzeitalter nach Nonnos, Sonne und “Stier” gehen also zu Frühlingsbeginn gemeinsam auf und unter. Konkret gemeint sein dürfte aber eher ein herbstlicher „Blutmond“, der sich im Sternbild „Taurus“ (lat., „Stier“) ereignete. Vollmond und „Stier“ wandern dann im Laufe der Nacht, nach ihrem gemeinsamen Aufgang im Osten (Phönizien), Richtung Westen. Weshalb sich beide mit Ende der Finsternis, ein paar Stunden nach Vollmondaufgang – vom griech. Festland gesehen etwa in Richtung Kreta – diskret den Blicken aller für den Zeugungsakt entzogen (Am Himmel steht nun ja wieder sinngemäß eine der Mütter der Europa.) bzw. endet, was ja auch einleuchtet, ihre bereits himmlisch vollzogene Vereinigung in dieser südöstlichen Richtung.

Antike Künstler: Vasenmaler, Mosaikenmaler und Bildhauer scheinen häufig die astrale Metapher vom Stierritt der Europa korrekt verstanden zu haben. Meist wird sie bildlich dargestellt, literarisch auch in Ovids “Metarmorphosen”, wie sie sich während des Rittes mit einer Hand an einem der beiden Stierhörner festhält.21 Was als Metapher für die zwischen den zwei Hörnersternen (Elnath und Zeta-Taurii, auch arab.: Alheka) des Sternbildes „Taurus“ hindurch verlaufende Linie der Ekliptik zu verstehen ist, die einseitig näher an Zeta-Taurii vorbeiführt. Ovid (1. Jh. v. – 1. Jh. n. Chr.) beschreibt in seinen „Metamorphosen“ (II/855, 856) das Gehörn des Zeusstieres zwar als „Klein …“, fährt aber poesievoll in astraler Metaphorik fort: „… Künstlich gedrechselt, durchleuchtend erscheinen sie mehr noch als klares Edelgestein; …“. Es zeugen aber auch jene Darstellungen vom Wissen um den Verlauf der Ekliptik, bei denen Europa die Hand mittig auf das Stierhaupt legt.

Das Haupt der reitenden Prinzessin befindet sich über dem Stierrücken etwa an jener Position, die in astraler Realität der Sternhaufen der Plejaden einnimmt. Was manch antiker Vasenmaler mit einem Kopfschleier der Europa versinnbildlicht haben dürfte.22. Bei geminderter Sehkraft erscheint der Sternhaufen eher als verschwommener Lichtfleck, übertragen „verschleiert“. Nicht ausgeschlossen scheint, dass der wehende Schleier Europas zugleich die anhaltende Verschiebung des Frühlingspunktes westwärts auf der Ekliptik versinnbildlichen könnte, von den Plejaden weg Richtung “Widder” (lat.: “Aries”). Da der “Stier” am Himmel quasi rückwärts umläuft, weist der Schleier der rittlings sitzenden Europa sinngemäß nach Westen. Ebenso geht der “Widder” dem “Stier” auf der Ekliptik westlich voran. (Spätere römische Darstellungen mit im Wind gebauschter Tunika spielen dagegen eher auf das griechische Wort: “plein” für “segeln” an, wovon man vielleicht erst zu jener Zeit die Bezeichnung der Plejaden abzuleiten versuchte.23

Manche Keramik zeigt Europa im gestirnten Kleid oder Sterne zieren den Bildhintergrund. Was ebenfalls das Wissen des jeweiligen Künstlers um die kosmologische bzw. astronomische Relevanz des Mythos bezeugt. In einem Fall, so bei Kerényi zu lesen, hält Europa einen Reif. Der sich inzwischen wohl zwanglos als Symbol der Ekliptik einordnen lässt, dem Ort ihrer Entführung.

Die rosig glühende Europa steht aber nicht nur allegorisch für sinnlichen Reiz und kupfernen Finstermond im Osten. Morgenröte und Jugend symbolisieren ebenso gesellschaftlichen oder auch geistigen Auf- und Umbruch bzw. einen Neubeginn. Assoziiert man so Mondfinsternis, Kupferfärbung und Aufbruch mit der namentlichen Bezeichnung unseres Kontinents “Europa”, suggeriert das namentlich die mythologisierte Rückbesinnung der antiken Griechen bezüglich europäischen Finsterniswissens mindestens bis auf die kupfersteinzeitliche (griech.: chalkolithische) Entwicklung.

Footnotes

  1. „Die Dionysiaka des Nonnos“, deutsch von Thassilo Scheffer, Bd. 1, I/45-II/712, S. 2-47 (Handlung 1. u. 2. Gesang), Verlag F. Bruckmann AG, München 1929. Back to footnote
  2. Vergl. Hesiod: „Theogonie“, Verse 813-873, deutsch: Johann Heinrich Voß, Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1911; online, Projekt Gutenberg: https://www.projekt-gutenberg.org/hesiod/ theogon /theogon2.html, zuletzt eingesehen 15.09.2024 Back to footnote
  3. Hesiod: „Theogonie“, ebenda, Verse 814-815. Apollodor: “Bibliothek”, I/6/3 Back to footnote
  4. Nonnos „Dionysiaka“, 1929, Bd. 1/I/142-144 u. 523. Back to footnote
  5. Robert von Ranke-Graves: “Griechische Mythologie. Quellen und Deutung“, dtsch. von Hugo Seinfeld, Rowohlts Enzyklopädie, 17. Auflage 2007, ppb RoRoRo, 36.2, S. 119/120. Back to footnote
  6. Apollodor: “Biliothek”, I/6/3. Back to footnote
  7. mdrWissen: „Archäologie-Sensation am Mittelmeer: Nach 3.500 Jahren erste Opfer der Thera-Katastrophe geborgen“, 04.01.2022, 17:38 Uhr,  https://www.mdr.de/wissen/santorin-thera-eruption-vulkan-tsunami-opfer-cesme-102.html, zuletzt eingesehen: 15.09.2024. Back to footnote
  8. Der Ausbruch wurde mittels Radiokarbondatierung auf 1627 – 1600 v. Chr. datiert. Onlineinfo der Heidelberger Akademie der Wissenschaften unter: https://www. archaeologie-online.de/artikel/2006/ein-olivenbaum-und-die-chronologie-der-aegaeis/, dort mit Verweis auf die Internetseite des deutschen Geologen Tom Pfeiffer: www.decadevolcano.net, der bei seinen Untersuchungen am Santorin auf Thera einen Olivenast zur Radiokarbondatierung in den vulkanischen Ablagerungen fand; beide zuletzt eingesehen 20.09.2024. Back to footnote
  9. Moschos: „Europa“ II/42-44 in: Johann Heinrich Voß: „Theokritos, Bion und Moschos“, S. 357, Cotta’s Buchhandlung, 1808, Tübingen, digitalisiert 10.04.2010, Oxford Bibliothek (https://books.google.de/books). Back to footnote
  10. 1897-1973, Religionswissenschaftler und Mythologe. Back to footnote
  11. Karl Kerényi: „Die Mythologie der Griechen”, X/7. “Kretische Geschichten“, S. 87 u., dtv, München, 01/2003. Back to footnote
  12. Für mich käme, völlig spekulativ, als die “weithin Leuchtende” allerdings auch der “weite” Bogen des Zodiakallichts infrage. Back to footnote
  13. Pherekydes, Historiker, Mythograph, 6. Jh. v. Chr. Back to footnote
  14. Karl Müller, Theodor Müller: „Fragmenta historicorum Graecorum“, Band 1, Paris 1841, „Pherecydus – Fragmenta“, S. 70–99, IV/40 Scholien Apollon. III, 1185, S. 83, online Digitalisat (https://archive.org/ details/fragmentahistori01mueluoft/page/83/mode/1up?view=theater) zuletzt eingesehen 15.09.2024 Back to footnote
  15. Kerényi, ebenda, „Die Mythologie der Griechen“, dtv, 2003, S. 87 u. Back to footnote
  16. Homer: „Illias“ XIV/321-322, Übersetzung: Roland Hampe, Philipp Reclam jun., Stuttgart, Reclams Univers.-Bibliothek Nr. 249, 2010. Back to footnote
  17. Sinngemäß nach Kerényi, ebenda: „Die Mythologie der Griechen“, dtv, 01/2003, S. 87 u. Back to footnote
  18. Spätere Quellen, bspw. Herodot: „Historien“, 4/147, Horaz: „Oden“, III/27 geben König Agenor als Vater der Europa an und Phoinix als deren Bruder. Was die bei Homer noch überzeugende Metapher von Phoinix als „phönizisch Rot“ samt Logik des genetisch bedingten Übergangs auf Europa fast vollständig zunichte macht. Höchstwahrscheinlich wollte man über König Agenor – Anfangsbuchstabe A = “Aleph” – die Übernahme des phönizischen Alphabets durch die Griechen in den Mythos integrieren. Auch denkbar, dass man so auf eine phönizisch-semitische Wurzel des Wortes Europa anspielen wollte. Back to footnote
  19. Robert v. Ranke-Graves: „Phoinix ist die männliche Form von Phoinissa (die Rote oder Blutige) ein Beiname der Mondgöttin als Gebieterin über Leben und Tod.“ in: „Griechische Mythologie. Quellen und Deutung“, dtsch. von Hugo Seinfeld, 58.2, S. 175 u., RoRoRo ppb, 2007. Diese Darstellung wirft, ähnlich wie die ägypt. lunare Finsternismythe, nach der Seth dem Horus das Mondauge ausriss (Mondfinsternis) und Bezeichnungen wie “Blutmond”, die spekulative Frage auf, ob Finsterniszeiten in prähistorischen Kulturen mit blutigen Opfern, eventuell sogar mit Menschopfern verbunden waren oder in den Stunden einer Mondfinsternis vielleicht blutige Urteile, unter anderem auch Schicksalsurteile auf Basis orakelhafter, kultisch motivierter Rechtsprechung vollstreckt wurden, weil die kosmischen Gesetze der lichten Ordnung ausgesetzt schienen. Back to footnote
  20. Nonnos: „Dionysiaka“, I/1/356-361, v. Scheffer. Back to footnote
  21. Rotfiguriger Glockenkrater: „Europa“, Athen, um 400-370, Sammlung Klassische Archäologie (Inv.-Nr.: FD88) Landesmuseum Baden-Württemberg/Digitaler Katalog. Back to footnote
  22. Siehe z. B. spiritwicki.org/Europa_on_the_bull.jpg; siehe auch online unter: “Namensgeberin eines Kontinents: Wer war Prinzessin Europa? – Nomen Nominandum” von Kathi Bawidamann, Abb. 2 Back to footnote
  23. Nach Ian Ridpath: “Die großen Sternbilder”, Patmos ppb., 1992, S. 153 o. Back to footnote

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