Nachdem Zeus Europa auf Kreta zurückließ, nahm der kretische König Asterion (namentlich also ein Sternenkundiger bzw. selbst astraler Natur) nach erster kinderloser Ehe Europa zur Gemahlin und deren Zeussöhne an Kindesstatt an.1 2 3
Herangewachsen, kam es unter jenen zum Wettstreit um den kretischen Thron. Sieger würde, wer das deutlichste Zeichen göttlichen Wohlwollens vorzuweisen hätte. Minos erbat daraufhin vom Meergott Poseidon eine Opfergabe. Der erhörte ihn, ließ einen reinen, weißen Stier von herrlichster Schönheit dem Meer entsteigen, den Minos ihm hernach wieder zu opfern versprach.4 Dank Poseidons überzeugender Gabe erlangte Minos den Thron in Knossos.5 6
Anders als versprochen, behielt Minos das edle Rind des Meergottes und opferte dafür ein Tier seiner Herde. Poseidon, über das gebrochene Versprechen erzürnt, ließ daraufhin in Minos Weib Pasiphae eine heftige Leidenschaft zu dem reinen Tier erwachen. In brennendem Verlangen befangen wandte die sich an den Athener Daidalos. Der kunstfertige Baumeister und Erfinder weilte gerade, wegen einer Verfehlung in Athen, auf Kreta im Exil. Daidalos fertigte eine hohle Kuhattrappe, worin verborgen sich Pasiphae auf der Weide mit dem göttlichen Rindsgeschöpf vereinigte. Neun Monate später gebar sie den Minotauros, halb Mensch im unteren, halb Stier im oberen Teil. Dem gab man, wie dem ersten Kreterkönig, den Namen Asterios (latinisiert: Asterius) oder Asterion. Bekannter ist der jedoch als ’Minotauros’ – ‚des Minos Stier‘ (latinisiert: Minotaurus). Minos hieß Daidalos (latinisiert: Dädalus) einen Ausweg ersinnen, um das Geschöpf vor der Welt zu verbergen. Der schuf seinem Herrn ein Labyrinth mit so irren Windungen, dass sein Schöpfer selbst größte Mühe hatte, sich darin zurechtzufinden. Fortan hauste der Minotaurus im Zentrum jenes Labyrinthes, verborgen vor der Welt, in tiefer Finsternis.7
Rezeption:
Homer kennt in seiner „Ilias“ nur zwei Söhne der Europa: Minos und Rhadamanthys.8 Sarpedon besaß bei Homer mit Zeus zwar denselben Vater, aber eine andere Mutter. Er gehörte ursprünglich in den kleinasiatischen Mythenkreis um dessen Großvater Bellerophon. Jener tötete schon bei Homer („Ilias“ VI/155-183) und Hesiod („Theogonie“ 314-318) die Chimäre, bei der es sich mutmaßlich um eine kleinasiatische Symbolik für die Ekliptik handelt.9 Die Verknüpfung beider Mythenkreise über Sarpedon, offenbar erst nach Homers Zeit, erscheint wie ein gewiefter Schachzug der Mythographen. So verbanden sie, zumindest für ein verständiges Publikum, indirekt zwei einander hintergründig sinnverwandte Mythen, den um die Chimäre (Ekliptikkreis) mit jenem um den Minotauros im Labyrinth (totale Sonnenfinsternis auf der Ekliptik), ohne beide „Monster“ direkt miteinander zu konfrontieren. Üblicherweise wird jedoch argumentiert, Sarpedon stünde für eine kulturelle oder wirtschaftliche Verbindung zwischen Kleinasien und dem minoischen Kreta.
Wie auch immer! Der dem Meer entstiegene, „edle, reine, weiße Stier“ Poseidons ist nichts anderes als eine Metapher für eine kosmische Lichterscheinung. Die, spekulativ, über dem Reich des Poseidon, also über dem lichtlosen Meer, besonders prachtvoll oder deutlich anzuschauen war. Letztlich passt die Analogie ausschließlich zum zodiakalen Sternbild “Taurus” als dem einstigen “Leitsternbild” im Zodiakos. Seine Zuordnung zu Poseidon könnte spekulativ den Hintergrund haben, dass die stille Meeresoberfläche als gigantischer Spiegel den nächtlichen Sternreigen des Himmels zweimal erscheinen lässt, einmal real oberirdisch und einmal widerscheinend in den schwarzen Abgründen des Meere. Da Wasserscheiden auch als Spährengrenzen galten, ließ sich mit dem gespiegelten zodiakalen Sternenbogen der ekliptikale Kreislauf des “Stiers” durch Ober- und Unterwelt metaphorisieren. Gleichsam würde auch hier der oberweltlich astrale “Lichtstier” zum eigenen, dämonischen Antagonisten in der finsteren, abyssalen Tiefe als synonyme Unterwelt.
Zur Bedeutung des Namens Sarpedon vermag ich nichts beizutragen. Zu Minos kann ich immerhin ein paar Vermutungen anstellen. Meines Erachtens muss es eine Beziehung zwischen dem kretischen Minos und dem mythischen ersten König Menes der Ägypter geben. Schon der Begründer der für mich teils esoterisch anmutenden Anthroposophie Rudolf Steiner (1861-1925) sah in Minos und Menes dieselbe indogermanische Wortwurzel für “Mann, Mensch” mit der übertragenen Bedeutung “Stammvater der Menschheit”.10 Ob das etymologisch korrekt ist und beide Namen überhaupt indogermanischen Ursprungs sind, kann ich nicht beurteilen. Meiner Meinung nach besteht aber zwischen beiden ein überzeugender Bezug im astralen Bereich. (Siehe am Schluss dieses Abschnittes.) Nicht zuletzt spricht für eine solche Verbindung, dass sich die Minoer schon seit der Altpalastzeit nicht nur gern in technischer Hinsicht, sondern auch in astronomischen und kultisch-kosmologischen Dingen häufig an ägyptische Vorbilder anlehnten, wenngleich sie diese fast ebenso regelmäßig ihren kulturellen Bedürfnissen und Vorstellungen entsprechend adaptierten.11
Rhadamanthys wird allgemein als eine namentliche Ableitung vom griechischen: rhaptos = Stab, in Verbindung mit mantis = Prophet/Wahrsager/Deuter/Geomant gedeutet. So etwa bei Robert von Ranke Graves, demzufolge: „… Rhabdomantis, „Weissagen mit einer Rute oder Gerte.“ bedeutet. Rhadamanthys personifiziert demnach den kultisch-kosmologisch Wissenden/Weisen, der mit Hilfe eines Stabes orakelhaft-prophetische oder divinatorische Weissagungen traf. Möglicherweise rief man solche Weisen daher auch in Rechtsfragen an. Denn den Griechen galten scheinbar beide, Minos und Rhadamanthys, als weise Gesetzgeber und Gerechte.12 13 Vor einem solchen, wenn auch spekulativen Gedankenhintergrund wäre Rhadamanthys eher ein Metonym für Minos und umgekehrt. Die beiden Gestalten wären praktisch gegeneinander austauschbar. Was dann vermutlich auch für Sarpedon gilt.
Brinna Otto hingegen sieht in Rhadamathys einen älteren minoischen Herrscher, während Minos für sie die protogriechische Herrschaftsübernahme durch die Mykener kennzeichnet, einhergehend etwa mit den Regierungszeiten vom ägypt. Pharao Amenophis II. bis Ramses II.
Wenn aber die drei “Brüder” um den kretischen Thron wetteiferten, den Minos gleichnishaft übertragen auf der Basis besonderen astronomischen Wissens für sich entschied, was könnte dahinter stecken? Man bedenke in diesem Zusammenhang auch, dass sich nach Homer Minos neunjährig von Gottvater Zeus instruieren ließ. Wechselte vielleicht ein kultisch-religöses Führungsamt, vielleicht das Amt des obersten Orakelpriesters, eines Weissagers, alle neun Jahre im Rhythmus des halben Saroszyklus? Beziehungsweise musste sich der jeweilige Inhaber dieses Amtes spätestens nach neun Jahren seinen Herausforderern stellen, die allesamt der minoischen Oberschicht entstammten, als “Brüder” eben Gleiche unter Gleichen waren? In einer Art Orakelwettstreit um die eindrucksvollste oder erfolgreichste astronomische Vorhersage, deren Eintreten dann öffentlich überwacht wurde? Ist das vielleicht der Grund für die Existenz des rätselhaften Diskos von Phaistos? Der vermutlich ein astrokalendarisches Hilfsmittel darstellte und in einem Archiv des alten Palastes von Phaistos verstaubte, weil sein Inhalt zum Zeitpunkt der Zerstörung des Palastes durch ein Erdbeben um etwa 1700 v. Chr.14 bereits hoffnungslos veraltet war? Ferner sei erneut an die bronzene Gussform aus Paleikastro erinnert, mit deren Hilfe man unter anderem Finsternisse im Saroszyklus vorausbestimmen konnte. All das, wie auch die minoische Stiersymbolik und viele andere Hinweise auf die Finsternisthematik in der minoischen Bilderwelt der Paläste und Landvillen erwecken jedenfalls den Eindruck, als ob die möglichst präzise Weissagung von Finsternissen eine bedeutende Rolle für die Oberschicht der Minoer spielte. Galt ein erfolgreicher Prophet vielleicht auch als weiser Rat- und Gesetzgeber oder Richter, weil er dem Anschein nach im direkten Kontakt mit den Göttern stand? So, wie im Mythos Minos mit Zeus?
Konnte sich vielleicht sogar ein mykenischer Minos deshalb in Knossos etablieren, weil er bereits das Wissen besaß, dass sich im Rhythmus des Saros zahlreiche Finsternisse voraussagen ließen, womit er die einheimischen minoischen Propheten allesamt in den Schatten stellte? Jedenfalls gibt es einige minoisch-mykenische Siegelringe, die, in einer spöttisch karikativ anmutenden Stilistik der Gewinner der Geschichte, den Sturz eines kretischen Königs mit Krone ausgerechnet durch den ‘kretischen’ Stier auf der Ekliptik darstellen. (Stilisiert als himmlischer Bauwerksgrund oder als befestigter Weg auf dem Stier agiert.) Ob der Stier nun mit dem protogriechischen Zeus zu identifizieren ist, mit dem Sternbild “Taurus” oder ganz allgemein synonym als ‘Finsternisstier’ symbolisch für das Phänomen der Finsternisse und indirekt für deren Vorhersage steht, würde sicher eine wissenschaftliche, ikonologische Analyse lohnen.
In der modernen rezipierenden Antikenliteratur wird die allein von ihrem Gatten Minos verschuldete Verfehlung der Pasiphae (Nach Karl Kérenyi namentlich: “die allen Leuchtende“.)15 gern moralisierend interpretiert. Das mag vielleicht ein Aspekt der antiken Mythenbildung gewesen sein. Die Mär von Pasiphaes tierischem Begehren allein darauf zu reduzieren, greift allerdings wesentlich zu kurz. Was schon jedermann deshalb einleuchten muss, weil dieses ‘Vergehen’ völlig konträr zur lichtbezogenen Bedeutung ihres Namens stünde. Der sodomitische Akt der Vereinigung mit dem “Lichtstier”, nach ethischen und moralischen Vorstellungen eine abartige, gleichsam ‘finstere‘ Verfehlung, ist eine rein kosmologische Analogie, die allein die Wandlung vom “Licht-” zum “Finsternisstier” fabulierend versinnbildlicht.
Dennoch entbehrt die Buhle der Pasiphae mit dem Stier auch in direkter Hinsicht nicht jeglicher Realität! Das Gleichnis stützt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf weit ältere Vorbilder in der Alten Welt. So lässt sich etwa in der ägyptischen Frühkultur bereits eine figürliche Vereinigung aus weiblicher Gottheit und Rind in prädynastischen fledermausärmligen Frauenfiguren ausmachen. Deren Arme beidseitig über den Kopf erhoben gleichsam wie ein Hörnerpaar spitz zulaufen. Idolfiguren, aus denen vermutlich die kuhgehörnten und kuhohrigen ägyptischen Himmelsgöttinnen Bat und Hathor entwickelt wurden.(Siehe hierzu auch Kapt. I Abb. 2b.) In diesem Zusammenhang ergäbe sich für Pasiphae ein zwiegespaltenes Wesen. Zum einen ihre archaische, chalkolithische oder gar neolithische Seite, die einen Bezug zum Zodiakallicht nahelegt und sich unter anderem an die älteren ägyptischen Vorbilder anlehnen mag, zum anderen eine deutlich jüngere, vermutlich ekliptikbasierte, daher frühestens bronzezeitliche Seite.
Pasiphae jedenfalls galt den Griechen als Tochter des Sonnengottes Helios und der dunklen Neumondgöttin Perse oder Perseis.16 17 Die zeugende Verbindung der Eltern lässt für Pasiphae als „die allen Leuchtende“ nur wenige Alternativen zu, was ihre Bedeutung angeht. Am nächsten liegt, sie personifiziert den jeweils oberirdisch sichtbaren Teil der Ekliptik tagsüber. Also jenen Abschnitt, den ihre Eltern, Sonne (Helios) und unsichtbarer Neumond (Perseis), tagsüber ‘vereinigt‘ durchwandern. Allerdings leuchtet die Ekliptik nicht selbst. Man müsste in dieser Auslegung also den tagsüber sichtbaren Weg der Sonne über den Himmel im übertragenen Sinne als ‘feurigen’ Pfad des Lichts interpretieren. Eine Metapher, die das Wissen vermitteln könnte, dass die Ekliptik als Pfad der Finsternisse identisch ist mit dem Jahreskreis der Sonne unter den Gestirnen. Alternativ wäre Pasiphae mit dem breiteren zodiakalen Himmelsstreifen beiderseits der Ekliptik zu identifizieren, in welchem sich der Neumond tagsüber zu bewegen vermag, ohne Rücksicht darauf, ob eine Sonnenfinsternis zustande kommt oder nicht. Darin käme wiederum ihre ältere, archaische Seite zum Tragen, die sie möglicherweise auch mit dem Zodiakallicht verbindet, das tatsächlich ‘leuchtet’ und über dessen Beobachtung erst der zodiakale Sternenstreifen die Aufmerksamkeit der Menschen etwa zeitgleich mit Erfindung der ältesten Schriftformen erlangt haben dürfte.
Die Vereinigung der Pasiphae mit dem Sternbild “Taurus” jedenfalls metaphorisiert die Erkenntnis der genauen Lage der Ekliptik innerhalb des Zodiakos als kosmische Bahn der Finsternisse. Diese astronomische Erkenntnis der Menschheit symbolisiert zudem das Gleichnis vom Wandel des lichtweißen Stiers zum gehörnten Finsterling, welcher sich nach beider Vereinigung dem lichten Schoße der Pasiphae entrang. Die Frage, ob die zur Hälfte menschlich zur anderen Hälfte einem Rindvieh gleichende Gestalt des Minotauros, neben seiner noch zu klärenden astronomischen Symbolik, auch den Übergang von neolithischen Vorstellungen von einem von Rindern bewegten Kosmos hin zu den anthropomorph gestaltigen Himmelsgöttern der Bronzezeit symbolisiert, bliebe zu diskutieren.
Daidalos, genialer Schöpfer des Labyrinths, personifiziert im antiken Mythos menschlichen Erfindergeist und Kunstfertigkeit per se. Sein Name ist, nach älterer lexikaler Darstellung bei Dr. Wilhelm Hebenstreit, eine Ableitung von „Daedala“, einer griechischen Kunstgattung geschnitzter hölzerner menschlicher Figuren in Bewegung.18 Heute würden wir vielleicht von Gelenkpuppen sprechen, die seinerzeit wohl vorwiegend als Muster oder Schablonen für bewegte Figuren in der Bildhauerkunst gefertigt wurden. Demnach versteht sich Daidalos namentlich aber als kein Geringerer denn als der mythische Erfinder zodiakaler Sternbilder, die gleichsam als ‘bewegte Figuren‘ am Himmel im Jahresreigen ‘tanzen’. Was sich sinngemäß mit seiner mythischen Erfindung des Labyrinths deckt! (Bezeichend ist, wie die Bedeutungen der Figuren im Mythos eng ineinandergreifen, hier etwa die von Daidalos, Pasiphae, Minos und dem Minotauros, wenn man sie durchweg im hintersinnig astronomischen Kontext analysiert.) Während also Minos–Asterios eventuell auch als Europas Bringer zodiakaler Sternbilder gelten kann, wird mit Daidalos, als mythischem Erfinder des zodiakalen Sternenreigens, dieser Erkenntnisschritt der Menschheit von antiken Mythographen mehr oder weniger griechisch, vielleicht auch nur attisch-hegemonial vereinnahmt.
Erst die Identifikation des Daidalos als mythischen Erfinder des zodiakeln Sternreigens erklärt die folgenden Verse bei Homer sinnvoll, in der berühmten Schilderung des Schildes des Achill, den Schmiedegott Hephaistos im Auftrag von des Helden Mutter Thetis fertigte und von dem allgemein bereits angenommen wird, dass die geschilderten Bilder darauf astrokalendarische Allegorien sind:
Homer: „Ilias“, XVIII/590-593,„Drauf einen Reigen schuf der berühmte, mit Armen Gewandte,
Jenem gleichend, welchen voreinst in Knosos, dem weiten,
Daidalos für Ariádne mit schönen Flechten geschaffen.“
Übersetzung Roland Hampe, Reclam
Wenn also Daidalos der Ariadne einen „Reigen“ ersann, sind damit die ständig umlaufenden, zodiakal im Kreis aneinanderhängenden Sternbilder gemeint, unter denen auch die Planeten agieren und zentral die zwei unsichtbaren Finsternisknoten. (Die Schildbeschreibung verweist an späterer Stelle auf Reigen wogend tanzender Jungen und Mädchen mit Analogien zu Sonne und Mond wie: “Schöne Kränze” und “Goldene Dolche an silbernen Gehängen”, sowie auf zwei zentral agierende Figuren innerhalb dieses Reigens. Das “Wogen” im Tanz erinnert bildhaft wieder an die sinusförmig erscheinenden Bewegungen des Zodiakos eingedenk Sonne und Mond in ihren Jahresbahnen. Verborgen im Hintergrund, im Zentrum des Zodiakos, aber in genau entgegengesetzter Richtung zu Sonne und Mond, laufen die beiden Finsternisknoten um.) Die antiken Griechen bemühten im Mythos demnach die Minoer als Erfinder ekliptikaler Sternbilder. Mag sein, dass die tatsächlich einige der späteren 48 klassischen Sternbilder der Antike entwickelt hatten. Die uns überlieferten, klassischen zodiakalen Sternbilder dürften allerdings sämtlich im Zweistromland und am Nil entwickelt worden sein, gelangten aber vielleicht über die minoische und mykenische Kultur zu den Griechen.
Die weiter vorn erwähnte ältere, archaische Seite der Pasiphae passt übrigens zeitlich zu ihrem Gatten Minos. Der galt den antiken Mythographen scheinbar als jener kretische Urahn, der eben den ‘Himmelsstier’, das Sternbild “Taurus”, das reine weiße Tier des Poseidon, nach Europa brachte. Sinngemäß war Minos also jener Erste, der das Wissen um die zodiakalen Sterne von östlichen Kulturen übernahm und in Europa einführte.
Mindestens ebenso plausibel scheint dann aber auch folgender Gedanke, der mit diesem eng verflochten ist. Ihm liegt die auffällige namentliche Ähnlichkeit zwischen dem mythischen ägyptischen Urkönig Menes und dem kretischen Minos zugrunde. Beim ägyptischen Menes dürfte es sich um den archäologisch fassbaren König Narmer von Ägypten (um etwa 3000 v. Chr.) handeln, obgleich das unter Fachleuten wohl noch immer kontrovers diskutiert wird. Ich biete in diesem Disput folgende bedenkenswerte Option an. Sowohl der ägyptische Menes als auch der minoische Minos bezeichnen einen mythischen Urkönig und Kulturstifter, der sich jeweils astral im Sternbild “Orion” manifestierte. Für den kretischen Minos leuchtet das sofort ein, wenn man diesen mit dem mythischen, minoischen Urkönig Asterios oder Asterion gleichsetzt. Der Name bedeutet doch gleichsam: ‘der Astrale’, meint also eine “Sternenfigur”, ein Sternbild.
Spätestens der frühdynastische König Narmer alias Menes aber erkor das Sternbild “Orion” zum astralen Abbild des Götterkönigs Horus in menschlicher Gestalt. Zugleich ließ sich Narmer auf seiner berühmten Prunkpalette um etwa 3000 v. Chr. selbst in der typischen Haltung des Sternbildes “Orion” mit zum Schlag erhobener Keule konterfeien. Was nicht verwundern sollte, gaben sich doch schon die frühen Könige selbst den Namenstitel Horus. Seither existiert in der ägyptischen Kultur das Bild vom zum Schlag bereiten Pharao, der alle Feinde Ägyptens eigenhändig vernichtet. Bis in römische Zeit prangte diese “Schlagbild”, wie es der Ägyptologe Ludwig D. Morenz kurz und prägnant formulierte,19 20 an den Fassaden der großen Tempel im ganzen Land. Dieses Quasi-Abbild des “Orion” erinnerte also über Jahrtausende hinweg täglich mehr oder weniger auch an den ersten bedeutsamen König der ägyptischen Geschichte, der sich mit dem Lichtgott Horus und deessen astralem Abbild identifizierte.
Vermutlich wusste man nicht mehr genau, wer der geistige Schöpfer des astralen Gleichnisses war, da die Narmerpalette im längst vergessenen, oberägyptischen Hierakonpolis bereits unter dem Sand der Wüste begraben lag, als der mythische König Menes erstmals Eingang in die schriftlichen Annalen fand. Vielleicht, um nicht den Zorn aller anderen frühen Könige aus dem Jenseits auf sich zu ziehen, die man vielleicht unbewusst damit zurückgesetzt hätte, verzichteten die ägyptischen Priester womöglich voller Absicht darauf, einen einzigen der den Königslisten zufolge durchaus noch namentlich bekannten frühen Könige direkt mit “Orion” zu verbinden und erfanden deshalb den anonymen “Urkönig Menes“, sinngemäß wohl ‘den Ersten’. Was auch deshalb seine Richtigkeit haben dürfte, weil zwar später der Unterweltsgott “Osiris” zum Götterkönig avancierte, was ihn nachweislich auch mit dem Sternbild “Orion” verband. Nur wurde Osiris meines Wissens nie in der Pose des Erschlagenden dargestellt, war er dem Mythos zufolge doch selbst “der (von seinem Bruder Seth) mit der Waffe Erschlagene”. So jedenfalls bezeichneten nach Darstellung im “Reallexikon für Assyrologie” die akkadischen Sumerer Mesopotamiens im frühen 2. Jt. v. Chr. das Sternbild “Orion”. – Scheinbar nach ägyptischem Vorbild.21
Entscheidend nun ist, dass dieser Horus–Narmer-Menes in Gestalt des Orion auf der Narmerpalette nicht irgend jemanden zu erschlagen droht. Sein knieendes Gegenüber ist kein Geringerer als der von Lichtgott Horus (und damit auch durch Narmer) vollkommen entmachtete Finsternisgott Seth. Der logischerweise, wenn Horus im Bild astral als “Orion” erscheint, diesem frontal gegenüber, ebenso astral mit dem Sternbild “Taurus” identifiziert werden muss! Auch wenn er in der Bildszene auf der Narmerpalette zunächst in menschlicher Gestalt erscheint. Man beachte aber erstens, dass Horus-Narmer den Knieenden am Haarschopf gepackt hält und vergleiche dazu die sumerische Bezeichnung des Sternhaufens der Plejaden mit “za-ap-pu” übersetzt: “Haarbüschel”.22 Zweitens sei bezüglich Seth auf die Schminknapfseite der Narmerpalette verwiesen. Dort sieht man ihn im untersten Register, gleichsam in der Unterwelt, die von den Ägyptern weit entfernt im Westen verortet wurde, wie der in seiner Stiergestalt noch als vollkommen ungebändigten Finsternis- und Chaosgott mordend und Städte zerstörend unter den Fremdvölkern wütet.
Übertragen wir nun diesen prädynastischen, ägyptischen Urmythos vom Bruderzwist zwischen den Göttern Horus und Seth auf den mythischen kretischen Urkönig Minos-Asterios-Orion, steht auch der dem Sternbild “Taurus” am Nachthimmel direkt gegenüber, genauer dem heranstürmenden Minotaurus, der gerade aus dem “goldenen Tor der Ekliptik” hervorbricht. Minos–Asterios–Orion und “Taurus” bilden also auch von antiker Seite her astral vollkommen unzweifelhaft eine Einheit. Ergo: Menes = Minos = Orion.
Und so bewahrheitet sich vielleicht noch immer, nach mittlerweile 5000 Jahren, was schon die alten Ägypter über ihre schreibende Göttin Seschat erzählten: Sie ist es, die alle Taten aller Pharaonen unauslöschlich, für alle Ewigkeit festhält, auf dass sie ewig leben! Ihr Papyrus aber ist der samtene Nachthimmel. Ihre Lettern sind die ewigen Sterne. Was ihr Kopfschmuck mit dem gewundenen Kanal (Ekliptik) samt mittigem Übergang zu den “Unvergänglichen des Nordhimmels” (Jene Sterne, zu denen alle Pharaonen als Söhne des Sonnengottes Ra aufstiegen.) und dem Polarstern auf der Allachse, wohl auch Symbol der Architekturkunst mit Bauwerksausrichtung nach den Sternen, eindrücklich belegt.
Die Minoer, eventuell erst die Mykener, taten es offenbar den Ägyptern gleich und deuteten das Sternbild “Orion” als astrales Abbild eines mythischen kretischen Kulturgründers, die im Protogriechischen mit Minos vielleicht tatsächlich dieselbe Bedeutung hatte wie das ägyptische Meni, griech.: Menes. Hier passen also Astronomie, Historie und Mythos wenigstens ein Stück weit zusammen, wenn auch im Detail noch erheblicher Forschungsbedarf zur Absicherung dieser Hypothesen sowohl in der Ägyptologie als auch in der klassichen Altertumswissenschaft (Antikenforschung) bestehen dürfte. (Vertiefendes zur ägyptischen Ikonographie und Mythologie um Horus und Seth anhand der Prunkschminkpalette König Narmers ist hier demnächst unter Kapitel VIII geplant.)
Footnotes
- Apollodor: “Mythische Bibliothek”, III/1/2.
- Diodor: “Historische Bibliothek”, IV/60-2.
- Hygin: “Fabeln”, 1.1 “Europa”, 178
- Apollodor: “Mythische Bibliothek”, II/7
- Vergl.: Apollodor: “Mythische Bibliothek”, III/1/3. Hier erlangt Minos mit dem Geschenk des Poseidons ohne Erwähnung der Brüder den Thron.
- Herodot: “Historien” I/173, erwähnt einen Streit zwischen Minos und Sarpedon. “Des Herodotos von Halikarnassos Geschichten”, F. W. Hendel Verlag, Naunhof und Leipzig, digital Projekt Gutenberg-DE, zuletzt eingesehen: 05.03.2025.
- Absatz sinngemäß nach Apollodor: “Bibliothek”, III/1/3 sowie Ovid: “Metamorphosen”, VIII/130-136, 154-168.
- Homer: Illias”, XIV/320-321.
- Schaut man sich unter Wikipedia die bronzene “Chimäre von Arezzo” aus dem 5./4. Jh. v. Chr. – Archäol. Nationalmuseum Florenz – genau an, erkennt man die offensichtliche Symbolik der Ekliptik in der Kreatur. Der Löwenkopf ist in Frontalansicht als Sonne stilisiert, als Taglicht. Über den Rücken verläuft ein “flammender” Haarkamm, der Pfad der Sonne durch den Tierkreis (griech.: Zodiakos). Der dort in der Körpermitte herausragende Ziegenkopf mit Hörnern symbolisiert den um die Ekliptik wankenden, nächtlichen Mond mit seinen Phasenwechseln (Ziegenhörner als Analogie für zu- und abnehmende Mondsichel.). Der seitlich leicht nach hinten geneigte Ziegenkopf deutet wahrscheinlich die rückläufige Bewegung des Mondes entlang der Ekliptik von West nach Ost im Monatsverlauf an. Statt eines Schwanzes windet sich ein schlangengleicher Drache im Bogen vom Hinterteil der Chimäre rücklings bis zur Körpermitte und endet dort in einem Schlangenkopf. Der Bogen erinnert ein wenig an unser Schlaufensymbol für die Mondbahnknoten. Denkbar auch, dass der gegen ‘Mondziege’ und ‘Sonnenlöwe’ gewandte Drachenkopf mitten über dem Rückenkamm die Umlaufrichtung der Finsternisknoten entgegen dem Lauf von Sonne und Mond entlang der Ekliptik verdeutlichen sollte. Möglicherweise steht die Ziege im Mittelteil der Chimäre auch für die horizontischen Übergangsbereiche zwischen Ober- und Unterwelt bzw. zwischen Tag und Nacht. Immerhin ist der Mond zuweilen auch tagsüber zu beobachten, die Sonne nachts aber nie. Als Tier des Gebirges könnte die Ziege ebenso eine Erinnerung sein an die Zeit, als man sich den Weltenrand noch als mächtiges Randgebirge vorstellte. Als Symbol des sphärischen Übergangs wäre ihr flammenspeiend gedachter Kopf dann Gleichnis für das flammende Morgen- und Abendrot, das unter anderem in der mythologisierten ägyptischen Kosmologie um die tägliche Reise des Sonnengottes durch die Unterwelt große Bedeutung hatte. Wohl nicht ganz grundlos hatten auch Griechen und Römer für Morgen- und Abendrot eigenständige Götter entwickelt. Einen wie auch immer gearteten Zusammenhang zwischen Weltenrandgebirge und feuerspeienden Vulkanen, beispielsweise als direkte Verbindung zwischen Ober- und Unterwelt im Sinne eines Höllenschlundes, will ich bei der capriden Symbolik aber auch nicht ausschließen.
- Anthrowiki.at – Stichwort: “Minos”
- Vergl. u.a. J. Lesley Fitton: “Die Minoer”, Theiss, Stuttgart 2004, S. 87, re. Sp. oder Brinna Otto: “König Minos und sein Volk – Das Leben im alten Kreta”, Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 1997, Neuauflage ppb 2000, S. 269-271.
- Platon: “Minos”, 318 – 321; Übersetzung: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Akademieverlag Berlin, 1985, digitalisiert: “Projekt Gutenberg-DE” Platons Werke. Erster Teil.
- Nonnos: “Dionysiaka”, XIX/189, 190.
- J. Lesley Fitton: “Die Minoer”, Theiss, Stuttgart 2004, S. 26, li. sp. m.
- Karl Kérenyi: “Die Mythologie der Griechen – Die Götter und Menschheitsgeschichten”, dtv, 23. Aufl. 2003, S. 88 u.
- Apollodor: “Bibliothek”, III/1/2.
- Was im Übrigen den nach Homer ‘allerfahrnen’ Äetes, den König von Kolchis am Schwarzen Meer – jener mit dem ‘goldenen Vlies’ der Argonauten – und die Zauberin Kirke, die Odysseus Mannen auf ihrer Insel temporär in Schweine verwandelte, zu Geschwistern der Pasiphae macht. Vermutlich gilt dieses anthropomorphe Trio der griechischen Mythologie, ähnlich wie die tierische Triade der mutmaßlich kleinasiatischen Chimäre, als Verkörperung des dreigeteilten Ekliptikkreises bzw. des Zodiakos, mit Tagbogen, Nachtbogen und unterweltlich verborgenem Abschnitt.
- Dr. Wilhlem Hebenstreit: “Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache”, Stichwort: Daedala, Wien, Gerold, 1843, digitalisiert, books.google.de
- Ludwig D. Morenz: „Anfänge der ägyptischen Kunst“, S. 110, IBAES, 2014 (Quelle online https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/135397/1/Morenz_2014_Anfaenge_der_aegyptischen_Kunst.pdf
- Ludwig D. Morenz et al: „Binnenkolonisation am Beginn des ägyptischen Staates – Eine Fallstudie zur Domäne des Königs SKORPION im späten Vierten Jahrtausend v. Chr.“, KATARAKT 1, EB Verlag, Berlin 2020, Beischrift zur Abb. 3a-g S. 16.
- Laut „Reallexikon der Assyrologie und Vorderasiatischen Archäologie“, Bd. 3, “Fabel – Gyges”, Hrsg.: Dietz Otto Edzard, begründet von: E. Ebeling, B. Meissner, fortgef. von: E. Weidner, u.a., Walter de Gruyter, Berlin 1971 – werden unter dem Stichwort: „Fixsterne“, S. 73, re. Sp. o., neun Sternbilder zitiert, aus einem Gebet an die Götter der Nacht, etwa aus der Zeit König Hammurapis (ca. 18. Jh. v. Chr.), darunter: „ … „za-ap-pu“ „Haarbüschel“ (Plejades), … , „ši-ta-ad-da-ru-um“ „der mit der Waffe Erschlagene“ (Orion), …“,. An gleicher Stelle, S. 73, li. Sp. unter 2.c wird für „Orion“ noch die aus der Ur-III-Periode (ca. 21. Jh. v. Chr.) stammende, sumerische Bezeichnung: „…, msipa-zi-an-na „getreuer Hirte des Himmels“ (Orion), …“ angegeben. (Anmerkung: Das hochgestellte m steht für mul, sumerisch: Stern). Letztere Bezeichnung erinnert wiederum an die alte ägyptische Vorstellung vom Götterkönig Horus, dem gleichsamen “Hirten” kosmischer Heerscharen. Wobei die “Hütefunktion” des “Orion” dem diesen direkt benachbarten Sternenkreis innerhalb des Zodiakallichts gemeint gewesen sein könnte.
- Etzard, Ebeling, Meissner; Weidner, ebenda: “Reallexikon der Assyrologie. S. 73 re. Sp. o.